„Der Grundsatz, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, hat also in den Schutzgebieten keine Geltung. Er ist dort eben nicht durchführbar“ (93). Diese lapidare zeitgenössische Feststellung fasst prägnant den Charakter des deutschen Rechts in den Kolonien zusammen, das der Kieler Rechtswissenschaftler Ralf Schlottau in seiner Dissertationsschrift „Deutsche Kolonialrechtspflege“ thematisiert. Der Autor untersucht darin Struktur und Entwicklung des deutschen Strafrechts in den früheren deutschen Kolonien. Zwar liegen auf dem Gebiet der Rechtgeschichte bereits einige Untersuchungen über juristische Aspekte des Kolonialismus vor; daneben gibt es auch Ansätze einer historischen Erforschung der deutschen Kolonialgerichtsbarkeit, beispielsweise die Arbeiten von Ulrike Schaper oder das Buch Grenzfälle. Staatsangehörigkeit, Rassismus und nationale Identität unter deutscher Kolonialherrschaft von Dominik Nagl (Frankfurt a. M. 2007). Dennoch bietet erst die vorliegende Untersuchung einen systematischen, wenngleich für NichtjuristInnen eher schwer zugänglichen Beitrag zur Thematik.
Schlottau beginnt mit einem Überblick über die Geschichte der „Erwerbung“ der deutschen Kolonien, der sich recht unkritisch ausnimmt und ohne ausdrücklichen Verweis auf das betrügerische und teilweise gewaltsame Vorgehen der „Kolonialpioniere“ auskommt. Er folgt oftmals unbedarft der Sprache seiner Quellen, wenn er von „Schutzherrschaft“, „Stammeshäuptlingen“ und „herrenlosen Inseln“ (43, 45, 59) spricht. Daran anschließend wendet er sich im zweiten Kapitel dem „Recht der kolonisierten Völker“ zu. Hierbei nimmt er ausschließlich auf zeitgenössische Betrachtungen über das „Eingeborenenrecht“ Bezug und schildert recht holzschnittartig die basalen Grundlagen des Rechts und der Sozialordnung der größten Bevölkerungsgruppen in den einzelnen Kolonien.
Das Hauptkapitel des Buches konzentriert sich auf das koloniale Strafrecht, die Gerichtsverfassung und das Strafverfahrensrecht, die Schlottau auf der Basis zeitgenössischer juristischer Fachpublikationen, Gesetzestexte (u. a. dem Schutzgebietsgesetz von 1886) sowie Beständen des Reichskolonialamtes und weiterer Quellen rekonstruiert. Als grundlegend betrachtet der Autor zweierlei: In der verbreiteten Anwendung der Prügelstrafe sieht er erstens einen Bruch mit wichtigen Errungenschaften des europäischen und insbesondere des deutschen Rechts. Zweitens konstatiert er einen „Rechtsdualismus“ bezüglich der juristischen Stellung der Menschen in Kolonien: Aufgrund zeitgenössischer Überlegungen zum Charakter der Kolonien als „Inland“ galten die dort lebenden Deutschen als Reichsangehörige; sie unterstanden daher dem deutschen Reichsstrafgesetz- und Zivilgesetzbuch. Den Deutschen gleichgestellt waren „ausländische Schutzgenossen“: Angehörige anderer „zivilisierter Staaten“. Im Unterschied zu diesen „Weißen“ waren – mit einigen Ausnahmen – dagegen sämtliche „Eingeborenen“ und ihnen gleichgestellte Gruppen als „Schutzgebietsinländer“ einer grundsätzlich anderen Justiz unterworfen: der „Farbigengerichtsbarkeit“.
In der Praxis bedeutete dieser Dualismus eine extreme ungleiche Behandlung. Dies wurde besonders bei „Mischangelegenheiten“ deutlich, wenn es in einem Rechtsverfahren um Deutsche und Einheimische ging. Für dieselben Rechtsverstöße wurden sie höchst ungleich belangt: Der Mord an zwei Afrikanern brachte etwa einem Siedler in Deutsch-Südwestafrika lediglich 3 Monate Gefängnis ein. Afrikaner hingegen konnten schon für einen körperlichen Angriff auf einen Kolonialbeamten zum Tode verurteilt werden (332f.).
Ein allgemein gültiges Gesetzeswerk für die „Farbigengerichtsbarkeit“ gab es nicht. Stattdessen entstanden für jede Kolonie eigene Regelungen, meist eine Mischung aus einheimischem und deutschem Recht. Die Rechtsetzungsbefugnisse in den Kolonien erlaubten es den Gouverneuren und Kolonialbeamten, weitgehend unabhängig auf der Grundlage von Verordnungen gesetzgeberisch tätig zu werden, was ihnen nicht nur größere Flexibilität bei der Arbeit garantierte, sondern auch Missbrauch und Willkür zugunsten der Kolonisierenden Tür und Tor öffnete.
Kleinere, nur Einheimische betreffende Streitigkeiten konnten von einheimischen Richtern geschlichtet werden. Waren jedoch Deutsche involviert oder lagen schwere Rechtsverstöße vor, oblag die Entscheidung einem deutschen Richter. Der Mangel an Verwaltungspersonal in den Kolonien brachte es jedoch mit sich, dass teils deutsche Beamte ohne jede juristische Ausbildung in den Kolonien über Einheimische Gericht hielten. Zudem war der Grundsatz einer klaren Trennung von Verwaltung und Justiz in den Kolonien aufgehoben, weil die Kolonialbeamten mangels Staatsanwälten und polizeilichem Personal häufig Strafverfolger, Ankläger und Richter in einer Person waren. Eine Verteidigung der Angeklagten war nicht zwingend vorgesehen. Schließlich fehlten auch noch Revisionsinstanzen. Kolonialbeamte konnten selbst Todesurteile fällen und sogar ohne vorherige Genehmigung von höherer Stelle sofort vollstrecken lassen, sofern ihnen Eile geboten schien. Die Folgen einer solchen Machtfülle liegen auf der Hand: Der Willkürjustiz und dem Herrenmenschentum waren kaum Grenzen gesetzt. Eine Ausnahme hiervon bildet einer der zahlreichen und von Schlottau in einem eigenen Unterkapitel untersuchte Kolonialskandal um die Beamten Heinrich Leist und Karl Wehlan in Kamerun. Er erregte im Reich großes Aufsehen, führte zu Disziplinarstrafen und einigen Regulierungen, die den nichtweißen Angeklagten zumindest minimale Rechtssicherheit zusichern sollten.
Weiterhin untersucht Schlottau die rechtlichen Regelungen für „Mischehen“ zwischen Deutschen und Einheimischen sowie die Stellung von Kindern aus diesen Verbindungen, bringt einen Ausblick auf die nationalsozialistische Rassengesetzgebung und nimmt das von den Nationalsozialisten entwickelte Recht für die Kolonien, die sie zurückerobern wollten, kurz in den Blick.
Mit seiner Arbeit legt Schlottau die erste umfassende Darstellung des Strafrechts in allen deutschen Kolonien vor. Der juristischen Maßgaben folgende Aufbau des Buches macht es zwar nicht ganz einfach, historisch besonders interessante Passagen zu finden. Jedoch entschädigen einige hervorragende Abschnitte, Zitate und im Anhang abgedruckte Quellen für die Mühe. Dem Autor kommt das große Verdienst zu, den durchweg rassistischen Charakter der deutschen kolonialen Gerichtsbarkeit auf breiter Quellenbasis herausgearbeitet zu haben. Er ermöglicht es den LeserInnen somit, diese Einschätzung fundierter als bloß mit Verweis auf einzelne Kolonialskandale belegen und nachvollziehen zu können. Es bleibt zu wünschen, dass sich Kolonialhistoriker trotz der teils unkritischen Herangehensweise von Rechtshistorikern mit deren Untersuchungen intensiver beschäftigen und im Gegenzug die Rechtsgeschichte einige Impulse der postcolonial studies zu integrieren versucht, statt historisches Recht bloß zu rekonstruieren.
Ralf Schlottau: Deutsche Kolonialrechtspflege. Strafrecht und Strafmacht in den deutschen Schutzgebieten 1884 bis 1914. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2007, 466 Seiten |