Die Studie versteht sich als Verflechtungsgeschichte der benachbarten deutschen und englischen Kolonien in Ost- und Südafrika. Der „gekreuzte“ Blick, die entangled history, eröffnet eine vielschichtigere Analyse als die bislang übliche „containerhafte“ Geschichte einzelner Kolonien und ihrer Mutterländer. So hat Ulrike Lindner zum Beispiel herausgefunden: Die Kolonialherren des deutschen Kaiserreiches und das Vereinigte Königreich betrachteten sich gegenseitig anhand einiger Topoi. Zum Beispiel sah die vielfältige und lautstarke deutsche Kolonialbewegung in den erfahrenen britischen Imperialisten ein Vorbild für das eigene Projekt, kritisierte aber gleichzeitig die zu lasche Haltung der Briten gegenüber der afrikanischen Bevölkerung. Der deutsche Tropenmediziner Hans Ziemann schreibt: „Wir sehen das in der englischen Kolonie Sierra Leone, wo die Unverschämtheit der Eingeborenen ganz ungeheuerliche Grade erreicht hat, wo europäische Damen sich nicht mehr auf den Markt getrauen, aus Furcht, von den Eingeborenen insultiert zu werden, wenn sie die Preise beanstanden. Es sind (...) unverzeihliche Fehler gemacht worden, indem man die Zügel allzu lose am Boden schleifen ließ und aus missverstandener Humanität die berechtigten Interessen der weißen Rasse gegenüber denen der Farbigen vernachlässigte“ (S. 61).
Umgekehrt rügten britische Kolonialexperten wie der Publizist Louis Hamilton die Gnadenlosigkeit des „unerfahrenen kolonialen Neulings“ Deutschland gegenüber seinen Untertanen: „Der Deutsche ist geschickt darin, gegenüber den Eingeborenen barsch, grausam und herrisch zu sein. (...) Das [deutsche] bürokratische System - mit Steuern, Vorschriften für Zensur sowie Nachtruhe und Ausgangssperre sind in den Kolonien mit aller Macht eingeführt worden. Ein größerer Gegensatz zu den wichtigsten Prinzipien kolonialer Politik wird schwerlich zu finden sein“ (S. 80). Diese Kritik der Briten diente aber auch dazu, eigene Grausamkeiten an Einheimischen, etwa in britisch Ostafrika, herunterzuspielen, schreibt Ulrike Lindner.
Selbst als sich der höchst umstrittene deutsche Reichskommissar Carl Peters im benachbarten Tanganjika dazu verstieg, britische Missionare in der Stadt Moshi für einen Aufstand der einheimischen Wachagga verantwortlich zu machen, sie gar der Waffenlieferungen an die Aufständischen beschuldigte, gaben die Briten nach langem diplomatischen Geplänkel schließlich nach und riefen ihre Missionare zurück. Obwohl sie genau analysiert hatten, dass ausschließlich die rigide, kompromisslose und daher sehr unkluge deutsche Herrschaft diesen Konflikt provoziert hatte. Lindner kommt zu dem Schluss, dass die britische Regierung offenbar bereit war, „die Missionare zu ’opfern’, um das Prestigedenken und die Eitelkeit der Deutschen als Kolonialherrscher zu befriedigen und weitere Streitigkeiten mit der deutschen Regierung zu vermeiden.“
Auch an anderen Beispielen macht Lindner deutlich, dass Probleme in der jeweiligen Nachbarkolonie grundsätzlich bedauert wurden, weil diese auch immer die Gefahr in sich trug, Unruhen auf dem eigenen Territorium hervorzurufen (S. 203f, 213). So unterstützen die Briten die Deutschen auch während des Maji Maji Krieges mit Nachschublieferungen über ihre Ugandabahn von Mombasa an der Küste bis zum Viktoriasee. Wider besseres Wissen und trotz verhaltener Kritik zeigten britische Zeitgenossen zudem Verständnis für den fast gleichzeitigen Vernichtungsfeldzug der deutschen „Schutztruppe“ gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwest 1904 bis 1907 (S. 220).
So schrieb die "Morning Post" in ihrem Leitartikel am 19. August 1905: „Es wäre ein völliges Missverständnis, anzunehmen, dass die Schwierigkeiten, mit denen sich Deutschland in seinen afrikanischen Kolonien konfrontiert sieht, hierzulande anders als mit Bedauern wahrgenommen werden. Die weißen Rassen haben in Afrika eine Last auf sich genommen, deren Tragweite sie noch nicht völlig realisiert haben. Aber die Solidarität der vergleichsweise wenigen weißen Männer, die die europäische Zivilisation mitten unter unzivilisierten oder halb zivilisierten Afrikanern repräsentieren, ist deutlich erkennbar. Es wäre völliger Wahnwitz, die Antipathien, die leider in Europa gedeihen, auf Afrika zu übertragen.“
Höchst interessant ist Lindners Untersuchung der rassistischen Konzepte in deutschen und britischen Kolonien. So dominierte in beiden Ländern in der Frühphase der Kolonisierung die These von der notwendigen Zivilisierung der minderwertigen „Rassen“. Erst nach der Jahrhundertwende, nach der Etablierung rassistischer Konzepte in Folge von Charles Darwin, Ernst Haeckel und vielen anderen, wurde eine deutliche Abgrenzung zwischen Kolonialherren und Kolonisierten propagiert. Generell fand die Autorin in Großbritannien eine größere Meinungsvielfalt vor – aufgrund der zahlreichen Erfahrungen im gesamten Empire und der Diskussionen über die Abschaffung der Sklaverei. Auch rein humanitäre, gleichwohl patriarchalische Herrschaftsmodelle wurden debattiert. In Deutschland dominierte dagegen ganz deutlich die Ideologie der Dissimilation und der Schädlichkeit der Rassenmischung. Aber: „In allen Kolonialgesellschaften wurde die inferiore Stellung der schwarzen Afrikaner als Begründung dafür benutzt, um sie als billige Arbeitskräfte in den Kolonien auszubeuten“ (S. 315).
Der imperiale Machterhalt ebnete alle Unterschiede ein. Überdies zeigt Ulrike Lindner an zig weiteren Beispielen, wie stark die beiden „Mutterländer“ bereits global vernetzt waren und auf vielen Ebenen miteinander kommunizierten. Schon auf den langen Schiffspassagen begegneten sich Händler, Beamte und Wirtschaftsleute aller Nationen, auch Inder, malaiische Wanderarbeiter, Ceylonesen und Somalis. An einsamen Grenzstationen im Hinterland taten britische und deutsche Wachposten quasi gemeinsam Dienst. In den Klubs der kolonialen Hauptstädte suchten Kolonisten sämtlicher Nationalitäten Entspannung. Die Deutschen waren in Ostafrika auf die britischen Telegrafenleitungen angewiesen, die Briten bewunderten die deutschen Eisenbahnen und Häfen, etwa in Daressalam. Im Institut Colonial International in Brüssel fand der Wissenstransfer und Austausch seinen Niederschlag in einem imperialen Archiv.
Präzise beschreibt Ulrike Lindner die Unterschiede in den kolonialen Regimen, die sowohl in den Metropolen als auch vor Ort je nach Gelegenheit anders betont wurden: Die Briten stellten sich gerne als erfahrene, überlegene, flexible Herrscher eines weltumspannenden Empire dar – und wollten doch von deutscher Kriegsführung und Infrastruktur lernen. Die Deutschen sorgten sich um ihr Prestige als imperiale Macht, pflegten ein zutiefst rassistisches Herrenmenschentum und wollten doch von den englischen Rechtssystemen, Verwaltungen und zum Beispiel vom Umgang der Briten mit Kontraktarbeitern lernen.
Lindners Werk liefert aufschlussreiche, neue Perspektiven und höchst interessante Erkenntnisse über den europäischen Kolonialismus als transnationales Projekt. Die einer Habilitationsschrift geschuldeten formalen, abstrakten Passagen lassen sich leicht überfliegen. Das Buch ist bestechender Beleg für den vergleichenden Ansatz in der Geschichtsforschung: Eine komplexe Verflechtungsgeschichte über frühe Globalisierung.
Ulrike Lindner: Koloniale Begegnungen. Deutschland und Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880 – 1914, Campus Verlag, Frankfurt a. M./New York 2011, 533 Seiten, Reihe Globalgeschichte Bd. 10, ISBN-13: 978-3593394855, 56 € [D]
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