Imperien haben Konjunktur in den Geschichtswissenschaften. Unter den einschlägigen Veröffentlichungen der letzten Jahre wäre, um nur ein Beispiel zu nennen, das Buch von Herfried Münkler „Imperien“ (2005) zu erwähnen, das auf eine breite Resonanz auch über die engeren Forschungskreise hinaus stieß. Eine der klassischen Fragestellungen lautet, ob und wann das Zeitalter der Imperien sein Ende fand und die postimperiale Gegenwart ihren Anfang nahm. Bei allen Kontroversen gibt es einen Konsens dahingehend, dass mit der Dekolonisationsphase nach 1945 die Strukturen imperialer Herrschaft keineswegs beendet waren. Unübersehbar ist der fortwirkende Einfluss des (Neo-)Kolonialismus auf Identitäten oder die wirtschaftspolitischen Realitäten der Gegenwart. So sichern sich auch ohne formale Kolonialherrschaft - etwa in Afrika - die Industrieländer weiterhin den Zugriff auf die Ressourcen des Kontinents. Wie zuvor der ehemaligen europäischen Kolonialmächte führt China gerade der Weltöffentlichkeit vor, wie man sich ohne große Skrupel die Rohstoffe aneignet und Afrika zu seinem Absatzmarkt macht.
Der von Jörn Leonhard und Rolf G. Renner edierte Sammelband nimmt sich unter dem Titel „Koloniale Vergangenheiten - (post-)imperiale Gegenwart“ der Thematik an. Das Buch versammelt die Beiträge einer Vortragsreihe, die 2007/2008 anlässlich des Jubiläums „550 Jahre Albert-Ludwigs-Universität“ in Freiburg gehalten und in Kooperation mit dem Historischen und Romanischen Seminar der Universität ausgerichtet wurde. Die insgesamt 14 AutorInnen diskutieren in ihren Aufsätzen die Folgen des neuzeitlichen europäischen Kolonialismus wie sie schwerpunktmäßig die Rückwirkungen auf und das Erbe in den Gesellschaften Europas erörtern. Damit liegt der Band ganz im Trend der postcolonial studies, die den Kolonialismus nicht als Einbahnstraße, sondern als gegenläufigen Prozess verstehen. Ziel ist es, die Epoche des Kolonialismus als Verflechtungs- bzw. Globalgeschichte neu aufzuarbeiten.
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Nach einer Einleitung der beiden Herausgeber, werden im ersten Teil Entwicklungen und Erbschaften des Kolonialismus aus der Perspektive verschiedener Länder und ihrer multiethnischen Empires nachgezeichnet. Wolfgang Reinhard gibt zunächst einen kritischen Überblick über die - keineswegs kohärenten - nachkolonialen bzw. transkulturellen Denkschulen und ihrer Wortführer, darunter Edward W. Said (Orientalismus), Homi K. Bhabha (Okzidentalismus), Gayatri Chakravorty Spivak (subaltern studies) und weitere Konzepte wie histoire croisée (Michael Werner / Bénédicte Zimmermann) bzw. entangled history (Shalini Randeria ), agency, multiple modernities (Shmuel N. Eisenstadt) etc. Es folgen Texte von Walther L. Bernecker zur iberischen Kolonialexpansion nach Amerika, von Daniel Mollenhauser über Grundzüge der französischen und Dirk van Laak der deutschen Kolonialgeschichte. Die Dekolonisation in Frankreich und Großbritannien als Krisengeschichte analysiert Jörn Leonhard.
Der zweite Teil widmet sich der kulturalistischen Dekonstruktion von kolonialen und postkolonialen Diskursen, d.h. es werden die durch die koloniale Erfahrung bestimmten Wahrnehmungs-, Deutungs- und Zeichensysteme in Politik, Literatur, Philosophie, Kunst, Architektur und Populärkultur diskutiert. Die Rolle deutscher 1848er Migranten und Kolonisatoren in Australien hat Gerhard Fischer untersucht. Wie die eurozentrische Abgrenzung gegenüber dem Fremden funktioniert und das Eigene nur durch Abwertung des Anderen definiert und erhalten wurde, thematisiert El Hadj Ibrahima Diop in seinen Überlegungen über den gegen „Schwarzafrika“ gerichteten Rassismus in der europäischen Aufklärungsliteratur. Der Medialisierung des kolonialen Projektes im deutschen Kaiserreich hat sich Klaus R. Scherpe angenommen. Er spricht von dem Hang der Deutschen zu einem „Imperialismus der Seele“ als imperialer Sonderweg. Ob man Scherpe bei einer seiner Schlussfolgerungen folgen mag, sei dahingestellt; er vermag nämlich in der Neugestaltung des Logos der Sarotti-Schokolade nur sterile political correctness zu erkennen (S. 183). Die Marketing-Experten der Stollwerk-AG hatten im Jahr 2004 den Produkten der Marke Sarotti ein neues Logo verpasst. Nunmehr ziert nicht mehr der „Sarotti-Mohr“ - diese rassistische Abziehfigur des „dienstbaren Negers“ -, sondern ein mit Sternen jonglierender Magier die Verpackungen. Weiterhin finden sich Aufsätze über Paris als Hauptstadt des (post-)kolonialen Argentinien (Juan Antonio Ennis), den frankophonen Immigrationsroman (Eva Kimminich), über den Rassismus und den inneren Kolonialismus in Lateinamerika (Günther Maihold) und schließlich über koloniale Städte in Afrika (Odile Goerg).
Alles in allem sind die auf den Vorlesungen basierenden Beiträge gut lesbar geschrieben und als einführende Literatur vor allem für Studenten geeignet. Beim Lektorat ist mancher Schreibfehler übersehen worden, so bei der Zitierung von Namen, wenn z.B. Bernard Porter den Vornamen „Barbara“ erhält (S. 9). Inhaltlich ist der ein oder andere kleine Schnitzer zu finden. Die These etwa, im Deutschen Reich habe es eine koloniale Massenbewegung (S. 13, 79) gegeben ist, schlicht unzutreffend. Weder vor 1914, noch nach dem Ersten Weltkrieg war die Kolonialbewegung in Deutschland eine wirkliche Massenbewegung, wenn es sich bei ihr auch um eine agile politische Gruppierung handelte. Was davon abgesehen, die geringe „Volkstümlichkeit“ des Kolonialgedankens unter der Bevölkerung im damaligen Deutschen Reich betrifft, so ist dies ja auch für die klassische Kolonialmacht Frankreich festgestellt worden. Nicht zuletzt klagte mancher der Koloniallobbyisten anlässlich der großen Pariser Kolonialausstellung von 1931 über die „koloniale Ignoranz der Mehrheit der Franzosen, die zwar an Exotik und Spektakel, nicht aber an ‚éducation coloniale’ interessiert“ (S. 86) gewesen seien. Darauf hatte vor einigen Jahren bereits Dieter Brötel mit seiner - in dem Buch nicht zitierten - Untersuchung über die Formierung des französischen Empire-Bewusstseins hingewiesen (Dieter Brötel: Empire und Dekolonisation als Problem des französischen Geschichtsbewußtseins. Der Beitrag von ‚kolonialer Erziehung‘ und Geschichtsunterricht, in: Ders. / Pöschko, Hans H. [Hg.]: Krisen und Geschichtsbewußtsein. Mentalitätsgeschichtliche und didaktische Beiträge, Weinheim 1996, S. 119-158). Hinsichtlich des Kolonialreiches von Großbritannien ist man sich übrigens ebenso uneins darüber, ob das Empire einen grundlegenden Bestandteil britischer Kultur und nationaler Identität bildet. Bernard Porter kam kürzlich hinsichtlich der Bedeutung des Empires für britische Selbstbilder zu dem Resümee: „It did not need them, and they did not need it.“ (Bernard Porter: The Absent-Minded Imperialists. Empire, Society and Culture in Britian, Oxford 2004, S. 164).
Der Band möchte den aktuellen Ansatz, das Empire als Modell einer „Globalisierung vor der Globalisierung“ zu verstehen, kritisch beleuchten, um nicht zuletzt einer „vorschnellen Inanspruchnahme historischer Beispiele vorzubeugen“ (S. 10). Keinen Zweifel lässt der Sammelband an der Notwendigkeit einer transnational ausgerichteten Geschichte, jenseits der nationalzentrierten Geschichtswissenschaften. Dabei wird einmal mehr zu Recht darauf verwiesen, dass sich die Geschichte der Kontakte und Interaktionen im Zeichen der europäischen Expansion als „kommende Meistererzählung einer transnationalen Geschichtswissenschaft“ (S. 40) anbietet.
Joachim Zeller
Jörn Leonhard / Rolf G. Renner (Hg.): Koloniale Vergangenheiten - (post-)imperiale Gegenwart (Studien des Frankreich-Zentrums der Universität Freiburg, Bd. 19), Berliner Wissenschaftsverlag GmbH (BWV): Berlin 2010, 265 Seiten, 32 € |