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Veröffentlicht auf freiburg-postkolonial.de am 28.03.20101

 

 

 

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Rezension von:

Stefan Gerbing:

Afrodeutscher Aktivismus.

Interventionen von Kolonisierten am Wendepunkt der Dekolonisierung Deutschlands 1919

 

Mit Martin Dibobe hatte die afrikanische Diaspora eine ihrer wichtigsten Persönlichkeiten, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich lebten. Dibobe, 1876 in Kamerun als Quane a Dibobe geboren, kam 1896 nach Berlin und arbeitete von 1902 bis etwa 1920 als Angestellter der Berliner Verkehrsbetriebe, zunächst als Zugabfertiger, dann als Zugführer. 1902 heiratete er die Berlinerin Helene Noster, mit der er zwei Kinder gehabt haben soll. Ende 1921 reiste das Ehepaar nach Monrovia/Liberia; die Weiterfahrt nach Kamerun gelang ihnen nicht, da die Franzosen ihnen die Einreise verweigerten. Über den weiteren Lebensweg liegen keine Informationen vor.

Als Bevollmächtigter der Kameruner in Deutschland initiierte Martin Dibobe im Jahr 1919 eine Petition an die Nationalversammlung in Weimar. Mit der von insgesamt 18 Personen unterzeichneten Petition „32 Punkte als Bedingung ‚Deutsche‘ zu bleiben“ wurde eine umfassende Darstellung der deutschen Kolonialherrschaft in Kamerun aus der Sicht der Kolonisierten vorgelegt. Die Unterzeichner der Schrift kritisierten die Verfehlungen der deutschen Kolonialmacht und erhoben Forderungen nach Gleichberechtigung.

Die Geschichte der Petition von Dibobe gilt eigentlich als vergleichweise gut erforscht, doch zeigt der Historiker Stefan Gerbing, wie man scheinbar Altbekanntem durch neue Fragestellungen durchaus neue Erkenntnisse abzugewinnen vermag. In seiner Studie „Afrodeutscher Aktivismus“ hat er, methodisch souverän mit den einschlägigen postkolonialen Theorieansätzen umgehend, das Quellenmaterial im Umfeld der Dibobe-Petition noch einmal eingehend unter die Lupe genommen. Dabei geht es ihm darum, die Spielräume des politischen Handelns von Afrodeutschen in der kolonialen Metropole auszuloten. Sein Interesse richtet sich, wie er schreibt, nicht auf die langfristigen Handlungsstrategien der Betroffenen, sondern auf deren taktisches politisches Handeln.

Sich von der älteren Literatur, vor allem der von Adolf Rüger und Peter Martin, absetzend, kommt er zu folgenden Schlussfolgerungen: Dibobe und mit ihm andere politisch aktive (Deutsch-)Afrikaner strebten nach einer vorsichtig gemäßigten Erweiterung des kolonialen Reformdiskurses. Seine auf einen Gleichheitsanspruch zielende Petition war demnach keineswegs geradlinig antikolonial. Gerbing verwirft unter anderem auch die von Rüger vertretene These, dass Dibobe Anleihen an radikalere Gesellschaftskonzepte sowjetischer Prägung, wie sie in der Oktoberrevolution entwickelt wurden, gemacht habe. Die Aneignung eines kommunistischen (Anti-)Imperialismusbegriffes durch schwarze Aktivisten begann in Berlin erst um die Mitte der Zwanziger Jahre. So stellten Dibobes Forderungen die koloniale Vorherrschaft der Weißen lediglich implizit in Frage. Zur Begründung seiner Thesen führt Gerbing an, dass damals unter den Bedingungen einer strukturell rassistischen Gesellschaft für die handelnden Kolonisierten faktisch kaum Alternativen zu dem gewählten Weg einer reformistischen Einflussnahme bestanden. Ebenso zählten zu den Unterstützern Dibobes unter den Weißen eher gemäßigte Sozialdemokraten oder Beamte innerhalb des kolonialen Verwaltungsapparates.

Mit seiner Studie hat der Autor eine interessante Neubewertung des Geschehens vorgelegt. Sie wird für die Debatte über afrodeutsche Geschichte sicherlich sehr anregend wirken.

Joachim Zeller

Stefan Gerbing: Afrodeutscher Aktivismus. Interventionen von Kolonisierten am Wendepunkt der Dekolonisierung Deutschlands 1919, Peter Lang, Frankfurt a. M. etc. 2010. 141 Seiten, Euro 26,80 (D), ISBN 978-3-631-61394-8 Zum Seitenanfang


Ergänzung: Forderungen der Dibobe-Petition von 1919:

1. Gleichberechtigung und Selbständigkeit

2. Einführung des BGB; Außerkraftsetzung der Sondergesetze

3. Abschaffung der Prügelstrafe, Bestrafung von "Eingeborenen" nach deutschen Strafvorschriften

4. Einführung des Gerichtsverfassungsgesetzes, Zulassung Schwarzer und Weißer als Beisitzer am Landgericht

5. Einführung von Schulpflicht, Zulassung von „Eingeborenen“ zum Studium

6. Abschaffung des Arbeitszwangs

7. Halbjährige Probezeit des Gouverneurs

8. Offenbarungseid nach deutschem Vorbild und Abschaffung der Schuldhaft

9. Bekanntmachung von Verordnungen des Gouverneurs in Bamun, Jaonde und Bada zusätzlich zu Deutsch und Duala

10. Freiheit des Handels, der Fischerei und der Jagd

11. Fortfallen der Enteignung

12. Achtung der „Sitten und Gebräuche“ der „Eingeborenen“

13 Aufhebung der Enteignung Dualas

14. Einführung von Schulpflicht, Zulassung von „Eingeborenen“ zum Studium

15. Entlassung von Beamten, die sich eines Vergehens schuldig gemacht haben

16. Abschaffung des Militarismus, Aufbau einer schwarzen Polizeitruppe unter dem Kommando eines weißen Hauptmannes und eines weißen Leutnants als Befehlshabers

17. Rechtmäßigkeit der Ehen

18. Sicherstellung von Unterhaltszahlungen (von weißen Männern an afrikanische Frauen)

19. Erlaubnis zur Auswanderung

20. Gleichstellung und Behandlung als „Inländer“

21. Keine Absonderung von Schwarzen in Geschäftshäusern und Vergnügungslokalen

22. Aufhebung der Grußpflicht als Anlass für die Anwendung der Prügelstrafe

23. Reduktion der Zahl der Beamten

24. Erhöhung der Löhne, betriebliche Mitbestimmung

25. Abschaffung von Misshandlungen von Arbeitern

26. Staatsreform und Wahl von drei Präsidenten in allgemeiner und geheimer Abstimmung

27. Begründung einer eigenen Steuerkasse, Angleichung des Steuersystems

28. Geistige Erziehung der Kinder durch Schwarze, Verbot gewerbetreibender Missionen

29. Aufhebung aller Sondergesetze und Verordnungen

30. Amtliche Beglaubigung des Vertreters der „Eingeborenen“ durch die „Eingeborenen“

31. Ständiger Vertreter im Reichstag oder der Nationalversammlung

32. Vollmacht zur Überbringung der Zusagen der deutschen Regierung an die „eingeborenen Häuptlinge“


Siehe auch auf freiburg-postkolonial:

a) Beiträge

Honold, Alexander: Afrika in Berlin - Ein Stadtviertel als postkolonialer Gedächtnisraum (2004). Zum Text

Oguntoye, Katharina: Prekäre Subjekte - Die afrikanische Diaspora in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus (2009) Zum Text

Zeller, Joachim und Heiko Wegmann: Fotogalerie: „Mohren“- Ein Stereotyp in der Alltagskultur (2008) Zur Galerie

Möhle, Heiko: Eine endlose Geschichte - Nachwirkungen des Deutschen Kolonialismus in Kamerun (2004) Zum Text

Simo, David: Hartnäckiges Erbe - Wie koloniale Strukturen Kamerun bis heute prägen und Probleme bereiten (2009) Zum Text

b) Rezensionen

Attikpoe, Kodjo: Von der Stereotypisierung zur Wahrnehmung des ‘Anderen’ – Zum Bild der Schwarzafrikaner in neueren deutschsprachigen Kinder- und Jugendbüchern (2003) Zur Rezension

Azamede, Kokou: Transkulturationen? Ewe-Christen zwischen Deutschland und Westafrika, 1884–1939 Zur Rezension

Bechhaus-Gerst, Marianne: Treu bis in den Tod. Von Deutsch-Ostafrika nach Sachsenhausen. Eine Lebensgeschichte (2007) Zur Rezension

Brändle, Rea: Nayo Bruce. Geschichte einer afrikanischen Familie in Europa (2007) Zur Rezension

Gouaffo, Albert: Wissens- und Kulturtransfer im kolonialen Kontext. Das Beispiel Kamerun - Deutschland (1884-1919) (2007) Zur Rezension

Kettlitz, Eberhardt: Afrikanische Soldaten aus deutscher Sicht seit 1871. Stereotype, Vorurteile, Feindbilder und Rassismus (2007) Zur Rezension

Lewerenz, Susann: Die Deutsche Afrika-Schau (1935-1940). Rassismus, Kolonialrevisionismus und postkoloniale Auseinandersetzungen im nationalsozialistischen Deutschland (2006) Zur Rezension

Pieken, Gorch/ Cornelia Kruse: Preußisches Liebesglück. Eine deutsche Familie aus Afrika (2007) Zur Rezension

Westerman, Frank: El Negro. Eine verstörende Begegnung (2005). Zur Rezension

Engombe, Lucia: Kind Nr. 95. Meine deutsch-afrikanische Odyssee (2004). Zur Rezension

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