„Man muss eben Alles sammeln!“
In ihrer jüngsten Publikation widmen sich die Basler Afrika Bibliographien (BAB) der Geschichte Namibias und der kolonial-wissenschaftlichen Aneignung außereuropäischer Gebiete. Unmittelbar nach der kolonialen Inbesitznahme von „Deutsch-Südwestafrika“ durch das Deutsche Reich 1884 startete eine Forschungsexpedition unter dem Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz mit dem Auftrag, das Hinterland zu erforschen. Mit dabei war auf Betreiben der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU) auch der junge Zürcher Botaniker Hans Schinz (1858-1941). Schinz und BGAEU stehen aus heutiger Sicht für eine breite Palette sich zu dieser Zeit herausbildender Spezialdisziplinen, darunter Botanik, Geographie, Ethnologie und physische Anthropologie. Im Zeichen des Hochimperialismus verfolgten diese mitunter das ehrgeizige Ziel, Flora, Fauna, Geographie sowie „Menschentypen“ auf der ganzen Welt zu erfassen und dokumentieren. Neben London und Paris entwickelte sich in der Folge auch Berlin als Hauptstadt der „verspäteten“ Kolonialmacht Deutschland zu einem Zentrum kolonialer Wissensaneignung und einer regelrechten kolonialen „Sammelwut“ (vgl. iz3w Nr 331 (Juli / August 2012).
Die Expedition Lüderitz’ und eine anschließende selbständige Reise von Schinz führten den ehrgeizigen jungen Wissenschaftler durch ganz Namibia, ins angrenzende portugiesische Angola sowie zu einem Abstecher ins britische Betschuanaland (Botswana). Neben der die Karriere fördernden Wirkung einer solchen mitunter gefährlichen Expedition verfolgte Schinz mit seiner Reise „den praktischen Zweck, technisch oder medizinisch verwendbare Pflanzen ans Licht zu ziehen und sowohl deren Verbreitung als auch ihren Handelswert zu studieren.“ Deutlich tritt hier der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Erforschung der Kolonialgebiete und deren Beherrschung und Ausbeutung zu Tage.
Schinz richtete seine ganze Energie auf das Sammeln: Gleich ob Pflanzen, Tierschädel, Gesteinsproben oder ethnographische Gegenstände, alles schien der Sammlung wert und wurde von Schinz feinsäuberlich präpariert, verpackt und nach Europa verschickt. Dabei war Schinz auch an menschlichen Überresten interessiert. Insgesamt drei menschliche Schädel brachte er von seiner Reise mit: In Südangola eignete sich Schinz, dieser Regelüberschreitung wohl bewusst, auf zweifelhafte Weise das Skelett eines jungen Mannes an; die Provenienz zweier Schädel aus Südnamibia lässt sich anhand Schinz Aufzeichnungen nicht rekonstruieren. Sie befinden sich bis heute im Besitz der BGAEU und sind bislang offenbar nicht von den aktuell geführten Diskussionen und Forderungen um Restitution geraubter menschlicher Gebeine betroffen.
Dass Schinz auch bei anderer Gelegenheit mitunter skrupellos und ohne jegliche Sensibilität gegenüber AfrikanerInnen agierte, bezeugen einige von ihm geschilderte Vorkommnisse: Vielfach führt sein herrisch-imperiales Auftreten gegenüber den Einheimischen zu Konflikten, wiederholt bringt er sich durch eklatante Regelüberschreitungen in ernsthafte Gefahr. Überhaupt spricht Schinz in aller Regel abwertend von AfrikanerInnen, die er herabwürdigend als „Kaffern“, „Gauner“, „große Kinder“ oder „seine Pappenheimer“ bezeichnet.
Das vorliegende Buch präsentiert eine umfangreiche Sammlung der von Schinz während seiner Reise nach Deutschland und die Schweiz an Familie und Kollegen gesandten Briefe. Meist erzählend geschrieben, lesen sie sich als zusammenhängender, mitunter spannender Reisebericht. Bereichert werden seine Schilderungen durch zahlreiche Fotografien, die großteils von Schinz selbst angefertigt wurden.
Interessant sind seine Beobachtungen und Sammeltätigkeit vor allem deshalb, weil sie ein bezeichnendes Licht auf die wissenschaftlichen Methoden jener Zeit werfen. Zudem finden sich in den Aufzeichnungen zeitgenössisch vielfach artikulierte Befürchtungen mit Blick auf die sich zu dieser Zeit intensivierende koloniale Durchdringung des afrikanischen Kontinents: Das kurz gehaltene, erklärende Vorwort des Buches informiert darüber, dass Deutsch-Südwestafrika zu dem Zeitpunkt, als Schinz das Land bereiste, keinesfalls unberührtes „terra nullius“ war. Die Menschen dort lebten vielmehr seit Jahrzehnten in engem Austausch mit EuropäerInnen: Missionare, Händler, Jäger und südafrikanische Buren sorgten bereits seit der ersten Jahrhunderthälfte für die Verbreitung des Christentums und europäischer Produkte und Konsumgüter, nicht zuletzt von Gewehren. Die hieraus resultierenden, tief greifenden Transformationsprozesse in den afrikanischen Gesellschaften, angefangen beim Tragen europäischer Kleidung, mussten jedoch den ethnographisch interessierten Forscher befürchten lassen, das Objekt seiner Beobachtung – die vermeintlich „authentischen“ AfrikanerInnen –durch europäischen Einflüsse unwiederbringlich zu verlieren. Auch hieraus resultierte das Bemühen, die entsprechend der sozialdarwinistisch geprägten Denkart der Zeit scheinbar vom „Aussterben“ bedrohten Gesellschaften anhand ihrer handwerklichen Erzeugnisse durch Sammlung und Dokumentation zur weiteren Erforschung zu bewahren. Dieser Anspruch paarte sich bei Schinz und Zeitgenossen mit der Illusion, ganze – mithin als geschichtslos und statisch verstandene – afrikanische Gesellschaften durch die Anlage einer Sammlung ihrer materiellen Kultur vollständig dokumentieren zu können.
Der besondere Wert der Quellen von Schinz liegt nicht zuletzt in diesem historischen Kontext begründet: Seine Briefe bilden ein Dokument der Wissenschaftsgeschichte einer Zeit, als sich verschiedene wissenschaftliche Disziplinen erst voneinander herauszubilden und abzugrenzen begannen und die „Kolonialwissenschaften“ einen großen Aufschwung nahmen. Ihre Betätigung fanden sie zu einem großen Teil in einer panoptischen Sammelwut aller Produkte.
Korbinian Böck
Dag Henrichsen (Hg.): Hans Schinz: Bruchstücke. Forschungsreisen in Deutsch-Südwestafrika. Briefe und Fotografien. Basler Afrika Bibliographien, Basel 2012, 188 Seiten, 25.00 CHF, ISSN 1660-9638, ISBN 978-3-905758-32-0