Bernhard Grzimek und (post)koloniale Perspektivenim NaturschutzgedankenDieser Text ist entnommen aus: iz3w Nr. 248 (2000), S. 38ff. |
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Der Professor und die Tsetsefliege Vom »Platz an der Sonne« zum »Platz für Tiere« Tier- und Naturfilme erreichen hierzulande auch in Zeiten von Pay- und Reality-TV erstaunliche Einschaltquoten. Wo sich niedliche Nager und putzige Bären balgen, da scheint die Welt noch in Ordnung. Vor allem Bernhard Grzimek hat dies in zahlreichen Fernsehsendungen immer wieder vorgeführt. Doch die Bücher und Filme des bekanntesten deutschen Tierfilmers in den 50er Jahren zeigen, dass in der Entdeckung unberührter Natur in Afrika die Identitätssuche Nachkriegsdeutschlands symbolisiert liegt: Die Suche nach einem Platz für Deutsche. von Michael Flitner* Die Forderung nach einem »Platz an der Sonne«, die der Staatssekretär im Auswärtigen Amt und spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow Ende 1897 im deutschen Reichstag erhob, gehört zu den bekanntesten Schlagworten für das deutsche Kolonialzeitalter. Sie markiert zeitlich den Übergang zu einem aggressiveren deutschen Auftreten im Kampf der Imperialmächte, mit Flottendemonstrationen von Kiautschou bis Agadir, wo ein Kriegsschiff mit dem Namen »Panther« deutsche Ansprüche geltend machen sollte. Mindestens ebenso bekannt ist in Deutschland die Forderung nach einem »Platz für Tiere«, für echte Panther sozusagen, die der Zoodirektor und Tierfilmer Bernhard Grzimek ab 1956 jahrzehntelang regelmäßig im Ersten Deutschen Fernsehen erhob. Mit Einschaltquoten von 75 Prozent war die Sendung lange Zeit die beliebteste überhaupt – noch vor der Tagesschau und dem heiteren Beruferaten. Nicht zuletzt der tierische »Gast« im Studio wurde im Laufe der Jahre ein feststehender Topos. Bernhard Grzimek zeigte, »wie wertvoll Fernsehen sein kann« (Seeßlen). Mit seinen Filmen und Büchern gilt er heute auch als »Motor« des Naturschutzes in den 1960er Jahren, ja sogar als »Vorreiter der Ökologiebewegung«. (...) Es liegt nicht nur wegen der vergleichbaren Wortwahl nahe, diese beiden zeitlich auseinander liegenden Forderungen nach dem Platz an der Sonne und dem für Tiere probeweise miteinander in Verbindung zu setzen. Denn das deutsche Bild der Tropennatur hat fraglos starke Impulse während der Kolonialzeit erhalten. Die zeitgenössischen Berichte der »Entdecker«, Eroberer und Missionare sind voll von Bildern der Tropennatur und insbesondere des »Urwalds«. Vor allem aber lädt Grzimek selbst zu der vorgeschlagenen Verbindung ein. Denn seine Reisen führten ihn sowohl in die ehemals deutschen Kolonien als auch in den Tropenwald des Kongo. »Kein Platz für wilde Tiere« hieß sein Bericht von dieser Reise, der 1954 veröffentlicht wurde, im Titel noch negativ. Er erschien zunächst in der Illustrierten Revue, dann als Buch im Kindlerverlag und schließlich als Kinofilm, bald ausgezeichnet mit dem Bundesfilmpreis und dem Berliner Goldenen Bären. (1) In seinem Bericht lassen sich Elemente einer Neuinszenierung des deutschen Verhältnisses zum Tropenwald in der noch jungen Bundesrepublik finden, die zwischen kolonialer und postkolonialer Weltordnung angesiedelt ist und zugleich im Vorfeld einer aufsteigenden Umweltbewegung liegt. In dieser Inszenierung, so meine Gesamtthese vorweg, zeigt sich der Tropenwald als Bühne einer prekären Identitätssuche der Deutschen nach dem Nationalsozialismus, die in der Form eines kontrollierten Naturschauspiels vonstatten geht. Die Denkfiguren und Argumentationsmuster, die dabei unter Grzimeks Regie ins Spiel gebracht werden, bleiben bis in gegenwärtige Umweltkonflikte virulent. Die Heuschrecke Grzimek beschreibt in diesem Buch eine Reise in den belgischen Kongo, die er unternimmt, um dort viele wilde Tiere zu fotografieren und einige davon für den Frankfurter Zoo einzufangen. Doch weite Passagen des Buches gelten einer tieferen Botschaft, die konsequent um einen einzelnen Faktor herum organisiert ist: die wachsende Bevölkerung der Erde. Schon das erste Kapitel unter dem Titel »Afrikas Tiere müssen sterben« beginnt mit den Sätzen: »Bis sie dieses Kapitel fertig gelesen haben, in diesen wenigen Minuten, hat sich die Menschheit auf Erden um 4.000 Köpfe vermehrt. Morgen um dieselbe Zeit ist die Menschenzahl um 100.000 gestiegen ...« Und noch ehe es explizit geschrieben steht, ist das bald folgende Hauptargument klar: »Das ist der Grund, warum Afrikas Wildtiere sterben müssen, warum alle Wildtiere auf Erden der ›Heuschrecke Mensch‹ weichen müssen.« Grzimek führt dabei einen sehr simplen ökologischen Malthusianismus vor, der auf ›natürliche‹ Faktoren wie Bevölkerungswachstum, Ernährung und Krankheit beschränkt bleibt. Er geht in seiner Argumentation an keiner Stelle näher auf Bedürfnisse, Ressourcenverbrauch, Produktionsweisen oder soziale Institutionen ein. Es ist die nackte Zahl von Menschen auf der Erde und der »Platz«, der den »wilden Tieren« bleibt. Grzimek lässt auch in fast verblüffender Offenheit die naturalistischen Raumnot-Thesen der Geopolitiker im Tierreich neu erklingen. Die »Tiere ohne Platz« scheinen doch sehr dem »Volk ohne Raum« verwandt, allerdings in einer merkwürdigen, mehrfachen Umdrehung. In jenem gleichnamigen kolonialrevisionistischen Roman von Hans Grimm (1926), der den von den Nazis aufgegriffenen Slogan prägte, war Afrika ja gerade der Inbegriff von unermesslicher Weite, während »das ganze deutsche Land schon übervoll (ist) mit drängenden Menschen«. (...) Der Tropenwald bzw. »Urwald« ist bei Grzimek ein »Platz« mit changierenden Bedeutungen, die vor allem durch das Motiv der Leere zusammengehalten werden. Der konkrete »Platz« (place) wird trotz all der Pflanzen und Tiere als leer empfunden. Hoch droben mögen die Papageien kreischen – »hier unten merkt man nichts davon, es ist alles leer«. Meistens aber bezeichnet der »Platz« eine Matrix möglicher räumlicher Ausdehnung, einen abstrakten Raum (space). Dieser »Platz« ist programmatisch leer gedacht. Für das »tiefe Innere des Urwalds« heißt leer dann vor allem »menschenleer, auch leer von Pygmäen«. Manchmal ist die Vorstellung dieser Leere geradezu langweilig, ja es kann zu einem »Alpdruck« werden, »dass dieses Blätterdach ... tausende Kilometer weit ist, eigentlich unendlich«! Warum gibt es dann aber keinen »Platz« mehr in diesem unendlichen, leeren Wald? Die Antwort auf diese Frage führt zum Hauptmotiv zurück: »In spätestens fünfzig Jahren werden sich die Menschen südlich der Sahara verdoppelt haben. Wo Maniok, Süßkartoffeln, Bananen gebaut werden, muss man zwangsläufig Gorillas, Meerkatzen, Paviane, Antilopen totschießen, die davon auch leben wollen.« Angesichts des abstrakten Raumes, des normativ leeren Urwalds ist jeder Mensch eine Bedrohung. (...) Das rettende Ufer in jenem »brodelnden Meer aus Menschen« kommt jedoch bald in Sicht, es ist vor allem die Natur selbst, die Rettung verspricht. »Malaria, Schlafkrankheit, Aussatz, Filarien, Gelbfieber, Cholera, Sklavenhandel und die Kriege jedes Negerstammes gegen den anderen sorgten (dafür), dass die Menschen nicht mehr wurden und dass in weiten Gebieten gar keine Menschen lebten.« Nachdem Grzimek eingangs überdeutlich gemacht hat, wie negativ er jedes Bevölkerungswachstum bewertet, wird hier klar, dass er Bilharziose, Hunger und Krieg für Segnungen hält. Die Tsetsefliege Eine Verbündete hat der Autor ausfindig gemacht, die den Platz für wilde Tiere besonders wirksam zu bewahren hilft: Die Tsetsefliege. Die Bedeutung dieses kleinen »Gasts« wird schon daran deutlich, dass ihm eine von zwei didaktischen Grafiken in dem Buch gewidmet ist: Sie zeigt den afrikanischen Kontinent, der im mittleren Drittel, etwa von Gambia bis Tanganjika, dunkel getönt ist und ein von links ins Bild ragendes Rieseninsekt, dessen Stechrüssel sich in »Nigerien« bohrt. »Von Tsetsefliegen beschützte Gebiete« lautet die Legende. Die Tsetsefliegen wirken der afrikanischen »Raumnot« gleich doppelt entgegen: Sie infizieren die »europäischen Haustiere« mit der Nagana-Seuche und die Menschen mit der verwandten Schlafkrankheit. So helfen sie »beneidenswerte Malaria- und Schlafkrankheitsparadiese« zu erhalten, sprich: einen »Urwald«, in dem allein die wilden Tiere ihren Platz finden. An diesem Punkt wird Grzimeks Argumentation zum zweiten Mal hintergründig und komplexer, als es zunächst den Anschein hat. Denn für viele Leser seiner Generation stellte sich hier ein intertextueller Bezug her zu dem mit dokumentarischen Elementen angereicherten Roman Germanin: Geschichte einer deutschen Großtat von Helmut Unger aus dem Jahr 1938. Die Verfilmung dieses Romans, mit Luis Trenker in einer Hauptrolle und Goebbels Schwager Max Kimmich als Regisseur, kam 1943 in die Kinos und war der letzte große Kolonialfilm der NS-Zeit, gerade zehn Jahre vor Grzimeks Revue-Serie. Die Bezüge zwischen den beiden Geschichten sind offenkundig: Auch Germanin spielt überwiegend in Zentralafrika und dreht sich wesentlich um das Wirken der Tstetsefliege. Allerdings ist die Botschaft eine ganz andere: Der Film schildert die heroischen Taten eines fiktiven deutschen Wissenschaftlers, der während des Ersten Weltkrieges ein neues Medikament gegen die Schlafkrankheit erfindet – Bayer 205, später Germanin genannt, gab es tatsächlich –, und dadurch selbstlos unzähligen Afrikanern das Leben rettet. (...) Die oberflächlich erschließbare Hauptaussage von Germanin lautet ganz einfach, dass die Tsetsefliege eine Geißel Afrikas sei, weil sie Menschen tötet, und dass daher die Bekämpfung der Schlafkrankheit als ›unsterbliches Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte‹ zu gelten habe. Das wirft allerdings weiteres Licht auf Grzimeks Geschichte. (2) Denn er sagt ja zumindest implizit das glatte Gegenteil, für ihn wird Zentralafrika nicht vor, sondern von der Tsetsefliege beschützt. Ein zweites Mal, nach dem »Volk ohne Raum«, nimmt er damit einen NS-Topos auf und formt ihn zugleich um, indem er ihn ›zur Natur zurückführt‹. Wiederum scheint er indirekt alte Propagandakonstrukte auszuhebeln, indem er den Referenzpunkt ganz von den Menschen auf die Tiere verlagert, die hier quasi als schuldlose Subjekte agieren. Die vom Autor eingenommene Position ist dabei offen menschenfeindlich und implizit rassistisch. (3) Bis in seine Wortschöpfungen hinein bleibt Grzimek dem alten Diskurs verhaftet. »Deutsch-Ostafrika ist beinahe seuchenfrei« hatte es in Germanin geheißen, eine inhaltlich erfreuliche Botschaft, aber mit sehr üblen Anklängen für jedes halbwegs offene Gehör im Jahr 1943, in dem weithin ›judenfreie Ostgebiete‹ propagiert wurden. Grzimeks Sorge und Drohung zehn Jahre später klingt noch ebenso ungut, wenn man Inhalt und Subtext gemeinsam und Wort für Wort durchdenkt: »Ägypten wird bald gazellenfrei sein«. Das deutsche Okapi Das konkrete Objekt der Begierde, dessenthalben Grzimek sich vor allem auf den Weg gemacht hat, ist das Okapi, jenes giraffenverwandte Waldtier mit den zebragleich gestreiften Beinen. Während die Bevölkerungsfrage und mit ihr die Tsetsefliege den breiteren Rahmen des Buches setzt, steht das Okapi dramaturgisch an seinem Höhepunkt, und das heißt auch: tief drinnen im »Urwald«, wo diese »Urgiraffe« ihren »letzten Zufluchtsort« gefunden hat. Doch das Okapi begegnet uns von Anfang an nicht allein, sondern stets in rätselhafter Begleitung: »Der Ituriwald hat zwei Arten von seltsamen Lebewesen lange vor der übrigen Welt versteckt gehalten. Das Okapi ... und die Pygmäen.« Die Zusammenschau von Okapis, Pygmäen und »Negern« eröffnet nun vielfältige Möglichkeiten, das Verhältnis von Tier und Mensch, Natur und Gesellschaft weiter zu erörtern. Die Pygmäen oder »Bambuti« (heute: Mbuti) bilden nämlich für Grzimek als hybride Wesen ein Übergangsfeld zwischen Mensch und Tier. In unterschiedlicher Form baut Grzimek den naturnahen, letztlich nicht subjektfähigen Status der Mbuti weiter aus, vor allem durch Verniedlichung und Infantilisierung sowie durch die Überlappung der verwendeten Begriffe: Die »Zwerge« sind »wie Kinder«, ein »Urwaldkind« ist ein kleiner Schimpanse, während ein »Schimpansenmädchen« an anderer Stelle »ein richtiger frecher kleiner Negerjunge« sein kann – auch das Geschlecht ist vor diesen Übergängen offenbar nicht gefeit. Die Angehörigen dieser zwergenhaften »Menschenrasse« sind nach Grzimek »gar nicht mit Negern verwandt«. Sie sind in erster Linie das Opfer dieser dritten Gruppe. Denn während die »Waldzwerge« »liebenswert« und »zutraulich« sind, wimmelt es unter den Schwarzen offenbar von Menschenfressern, eine Vorstellung, die vor allem in historischen Berichten aus zweiter Hand entwickelt wird. So waren die »Vorväter der Asandeh« noch »leidenschaftliche Menschenfresser« und sogar die »Leibesfrucht« einer »erbeuteten Sklavin« konnte dazu bestimmt sein, »als Leckerbraten Verwendung zu finden«. (...) An dem Dreigestirn von Okapis, Mbuti und Schwarzen kann Grzimek die Hauptthemen des Buches – Bevölkerung, Kolonialismus, Modernisierung, Naturschutz – modellhaft durchexerzieren. Gemeinsam markieren die drei Protagonisten ein darwinistisches System, in dem die strengen Gesetze der Natur unnachsichtig walten: »So wie die Vorfahren der Okapis früher ganz Afrika und Europa bewohnt haben, und dann von anderen Tierarten allmählich verdrängt worden sind, die dem Kampf ums Dasein besser angepasst waren, so haben auch die Pygmäen unter dem riesigen Blätterdach des Kongo-Urwaldes eine Zufluchtstätte gefunden. Als nachher Neger, die ihrerseits von stärkeren Stämmen verjagt waren, vom Rande her in den Urwald eindrangen, wurden die Pygmäen von ihnen abhängig«. In diesem »Kampf ums Dasein« ist es Grzimek vor allem daran gelegen, dass die Pygmäen so bleiben, wie sie sind. Das heißt, dass sie nicht wie die »Neger« an den Errungenschaften der Zivilisation teilhaben, sich dank medizinischer Versorgung vermehren oder gar ›in die Geschichte eintreten‹, wie es die antikolonialen Bewegungen eben vorführen. Dieser Standpunkt wird unter anderem deutlich, wenn der Autor seine Methoden der Bildbeschaffung schildert: »Zum Filmen und Fotografieren sortierte ich immer wieder hartnäckig zwei oder drei aus, die irgendwo von Schwarzen europäische Shorts eingetauscht hatten oder stolz in einer zerrissenen Weste von Weißen paradierten. Weil sie nicht wie die anderen in ihrem Lendenschurz gekommen waren, bekamen sie auch keine Schokolade.« In diesem Zitat wird aber auch klar, dass der Sündenfall schon geschieht – und der Autor lässt an vielen Stellen erkennen, dass auch die »liebenswerten« Pygmäen zu Bösem prinzipiell fähig sind, weil sie grundsätzlich den Schwarzen nachstreben. Letztlich nehmen seine Befürchtungen im Hinblick auf die Pygmäen aber vor allem in einer anschwellenden »Menge von Mischlingen« Gestalt an. Während der hybride Status zwischen Mensch und Tier durchaus akzeptabel war, ist die Rassenvermischung mit den »Schutznegern« das Ende der Pygmäen, ein Ende, das dann auch kaum noch zu beklagen ist: »Die Urwaldneger werden allmählich hellhäutiger und kleiner, ein Volk von Bastarden, und die reinblütigen Pygmäen müssen immer stärker abnehmen. Sie werden ohnedies über kurz oder lang ganz verschwinden, und gerade deshalb war es für uns so reizvoll, sie noch kennen zu lernen.« Nun erst, nachdem der darwinistische Reigen zum bitteren Ende gekommen ist, erfahren die Leserinnen und Leser, dass darin selbst die Pygmäen noch Täter sein können. Denn das letzte Opfer bleibt schließlich das Okapi, »... wenn man sich klarmacht, dass die Pygmäen seit alters her fast täglich Okapis fangen und aufessen«. (4) Das Okapi am Ende der Opferkette – warum will Grzimek uns gerade dieses Tier in seinen Zoo bringen, als »Das erste ›deutsche‹ Okapi«, wie er das entscheidende Kapitel überschreibt? Weil es Opfer ist, wie viele Deutsche sich in den 1950ern fühlen, oder weil es noch mehr Opfer ist, am Ende gar ein Opfer der Deutschen? Das Buch schafft es tatsächlich, das Okapi mit dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung zu setzen, mehr noch, ein Okapi ist das einzig konkret benannte Opfer von NS-Faschismus und Krieg, mit Todesursache und -datum: »Das nächste lebende Okapi kam erneut in den einzigen Zoo des belgischen Mutterlandes. Dieses Tier hat über 15 Jahre dort gelebt; es ist während des Futtermangels unter der deutschen Besatzung am 25. Oktober 1943 gestorben.« Der Naturstaat »367.000 Tiere suchen einen Staat« – so lautet der Untertitel von Grzimeks berühmtestem Buch Serengeti darf nicht sterben. Der Naturstaat, den Grzimek rhetorisch beschwört, entsteht in einer mehrfachen Abgrenzung: gegen die Moderne mit ihren großstädtischen »Furunkeln« und ihrem medizinischen Fortschritt, gegen die koloniale Mission der »Kulturvölker«, die diese Moderne zumindest dem Anspruch nach verbreiten wollen (Germanin), aber auch gegen eine raumgreifende Siedlungspolitik, wie sie unter völkischen Vorzeichen den NS-Strategen vorschwebte. Zugleich lassen sich aber leicht verfremdete Elemente aus all diesen Programmen mühelos wiederfinden. Der Grzimek-Diskurs ist in diesem Sinne gleichzeitig postmodern, postkolonial und postfaschistisch. Der folgende Versuch, Grzimeks Bedeutungswelt zu sortieren, lässt sich zwanglos von dem ›semiotischen Viereck‹ inspirieren, das A. J. Greimas maßgeblich entwickelt hat. Mit dieser »bedeutungserzeugenden Maschine« (Haraway) sollen hier jedoch nicht quasi objektive Sinnstrukturen aufgedeckt werden; das Schema soll vielmehr dazu dienen, die Pole und Spannungslinien sichtbar zu machen, die in Grzimeks Diskurs den »Platz für Tiere« definieren und situieren (vgl. nebenstehende Darstellung). Ausgangspunkt und Gegenstand der Erörterung ist die Forderung nach einem »Platz für Tiere«(A). Die Notwendigkeit eines solchen Platzes wird stellvertretend an dem seltenen und bedrohten Okapi verdeutlicht, das vor der herannahenden Zivilisation geschützt werden muss. Dies soll durch die Schaffung von Gebieten ermöglicht werden, in denen keine Menschen leben, ersatzweise dadurch, dass das Okapi in einen geschützten Raum gelangt, den Zoo. Die große Lösung, die Grzimek jahrzehntelang verfolgt hat, verlangt einen »Staat«, wie Grzimek es nennt, dessen einzig legitime Bewohner Tiervölker sind. Dieser Naturstaat kann freilich nur von »uns« Naturschützern durchgesetzt werden. Grzimek bringt dies gewohnt anspielungsreich zum Ausdruck: »... wir wollen Mitgeschöpfe, die wir für ebenso edel und lebenswert halten wie uns selbst, vor der Vernichtung bewahren.« (...) Und wenn solch höherer Zweck sie rechtfertigt, sind auch koloniale Repressionsmittel wieder zulässig. Der Schutz der kolonisierten Subjekte vor dem Kannibalismus ist hier der Topos, der den Schutz der Tiere vor den postkolonialen Subjekten präfiguriert. In diese Perspektive fügen sich auch Grzimeks heftige Interventionen zugunsten einer Zwangsumsiedlung der Masai im Serengeti-Nationalpark ein. (5) Der voll entwickelte Gegenpol zu diesem Platz in Grzimeks Schriften kann unter dem Schlagwort »Ein Platz an der Sonne« (B) zusammengefasst werden. Historisch war dies zunächst die Forderung nach einer zumindest gleichrangigen Position Deutschlands unter den Kolonialmächten, eine Stellung, die Deutschland als Kulturvolk gebühren sollte (Germanin). Diese Denkfigur weist Grzimek explizit zurück. Er will weder einen Kampf der Kolonialmächte um Afrika – »in Wirklichkeit gehört dieser Kontinent allen« –, noch will er, dass sich irgendwelche tatsächlichen oder vermeintlichen Errungenschaften der Zivilisation in Afrika ausbreiten. (...) Ein zweiter, unspezifischerer Gegenpol zum »Platz für Tiere« ist in dieser postkolonialen Position schon angedeutet. Der Platz ist dabei nicht als qualitativer Ort im Kreise der Kulturvölker gedacht, sondern als quantitativer Raum. Dieser Raum ist ursprünglich nicht für Tiere konzipiert, sondern für ein in Rassebegriffen gedachtes Volk – das »Volk ohne Raum« (A’). In einer denkwürdigen Umkehrung sowohl kolonialer Topoi als auch deutscher Großraumfantasien ist es bei Grzimek die Tsetsefliege, die verhindert, dass in seiner Sicht unbefugte, menschliche Völker in den »leeren« Urwald eindringen und dort dauerhaft siedeln können. (...) Die Option eines quasi natürlich expandierenden völkischen Staates kann und darf es nicht mehr geben, und schon gar nicht in Afrika. Grzimek schlägt sich mit seinem Naturstaat ja auf die Seite derjenigen, die von solcher Expansion bedroht werden: Okapis, Schimpansen und Gazellen, die es vor der »Heuschrecke Mensch« zu schützen gilt. Eine ganz entscheidende Idee aus dem ursprünglichen politischen Programm bleibt dabei aber erhalten: Ein Zusammenleben der verschiedenen ›Völker‹ – von Tieren und Menschen, die im Kampf ums Dasein ausdrücklich zusammengedacht werden – kann es auch hier nicht geben. Das letzte Feld, das den Grzimek’schen Platz für Tiere absteckt, steht zunächst in Opposition zum Platz an der Sonne. Im Schatten zu stehen oder gar im Regen, kein Kulturvolk zu sein hieß, im Kampf der europäischen Imperialmächte eine subalterne Stellung einnehmen zu müssen. In letzter Konsequenz bedeutet diese Position den vollständigen Verlust von Geschichtsmächtigkeit. Ein Kernpunkt der europäischen Perspektive in der kolonialen Expansion besteht darin, dass die eroberten und unterworfenen Völker keine historischen Subjekte sind, insbesondere in Afrika – sie sind Naturvölker (B’). Ihr Einschluss erfolgt demnach notwendig hierarchisch und im Wesentlichen paternalistisch, solange diese Hierarchie nicht in Frage steht. Bei Grzimek nehmen die Bambuti einen entsprechenden Platz ein. Ihre infantilisierende Darstellung wird durch die mehrfach erwähnte Verteilung von Bonbons und Schokolade auf den Punkt gebracht. Das populäre Bild der Schokolade und Kaugummi verteilenden US-Soldaten nach dem Krieg ist noch frisch im Gedächtnis und mag auch hier im Hintergrund eine gewendete Rolle der Deutschen signalisieren. (6) Zwischen allen Polen des normativen Systems »Platz für Tiere« sind gerade die Übergänge gefährlich. Die wachsende Bevölkerung darf nicht (mehr) zu expansiven Siedlungsplänen führen (A-A’); die Tsetsefliege, die den noch leeren Raum schützt, darf nicht im Zuge von Entwicklungsmaßnahmen bekämpft werden (A’-B), der medizinische Fortschritt (Germanin) darf nicht den Naturvölkern zuteil werden (B-B’), weil diese sonst den Naturstaat gefährden (B’-A). Auch der politische Subtext einer deutschen Identitätssuche bedarf kaum mehr weiterer Erläuterung: Das Volk ohne Raum ist besiegt, die Rückkehr zur kolonialen Option endgültig versperrt, auch der Weg in die Geschichtslosigkeit (in Form des mythischen Morgenthau-Plans) verworfen. Der legitime und mögliche Platz in Grzimeks Nachkriegsdeutschland liegt in einer Mensch und Tier übergreifenden, unpolitischen, globalen Natur. Dieser Platz ermöglicht gleichzeitig die Übernahme einer Opferrolle und die begrenzte Teilhabe an der wohlmeinenden und fast unsichtbaren Herrschaft über das natürliche Weltsystem. So lässt sich »Kein Platz für wilde Tiere« auch als ein Buch lesen, in dem der »Urwald« als Bühne dient, auf der die deutsche ›Suche nach dem richtigen Platz‹ auf vergleichsweise schadlose Art in der Tierwelt inszeniert wird. Als zeittypische, krude Geschichtsphilosophie ließe sich Grzimeks prekäre Suche demnach heute vielleicht einfach zu den Akten legen, auf dass nur die schönen Tierbilder aus Afrika und die putzigen Affen im Studio in Erinnerung bleiben. Zumindest zeitgenössisch war dieses politische Naturschauspiel jedenfalls auch im Ausland nicht anstößig. Das belegen die zahlreichen Übersetzungen von Grzimeks Büchern ebenso wie die Verleihung des Oscars für Serengeti darf nicht sterben in Hollywood, des ersten und einzigen Oscars, den ein deutscher Dokumentarfilm erhalten hat. Doch müssen jedenfalls sehr starke Zweifel angemeldet werden, dass Grzimek im Blick auf die spätere Ökologiebewegung »kindliche Seelen« glücklich beeinflusst hat, wie der erklärte »Öko-Optimist« Miersch vermutet. Die Fixierung auf ›charismatische‹ Großtiere, der eifernde Paternalismus, die systematische Missachtung der Interessen der lokalen Bevölkerung und insbesondere die misanthrope Grundhaltung, die erhebliche Teile des ökologischen Engagements in Theorie und Praxis heute noch durchzieht, stehen in aktuellen Umweltkonflikten allesamt auf Seiten der Probleme, nicht ihrer Lösung. Und da wirken Grzimeks Worte und Bilder noch kräftig fort. Anmerkungen:
* Michael Flitner ist Geograph und Mitarbeiter am Institut für Forstökonomie der Universität Freiburg. Der hier gekürzte und leicht überarbeitete Text erscheint im Oktober diesen Jahres in Michael Flitner (Hg.): Der deutsche Tropenwald. Bilder, Mythen, Politik. Frankfurt a. M./ New York: Campus Verlag. Dieser Text ist entnommen aus: iz3w Nr. 248 (2000), S. 38ff. Zurück zur Übersicht Hintergrundtexte |