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Lorenz Werthmann

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Dr. Lorenz Werthmann und seine kolonialen Schattenseiten

von Heiko Wegmann (2006, zuletzt erweitert und aktualisiert 15.07.2022)

Lorenz Werthmann (geb. 01.10.1858 in Geisenheim - gest. 10.04.1921 in Freiburg i. Br.) war katholischer Priester, Geistlicher Rat, Geheimkämmerer, Prälat und Sozialpolitiker. 1897 wurde in Köln auf seine Initiative der "Charitasverband für das katholische Deutschland" (seit 1921 Deutscher Caritasverband, DCV) gegründet. Er wurde erster Präsident dieser Organisation, die ihren Sitz seitdem in Freiburg i. Br. hat.  Für die Unterstützung von Armen und deutschen Auswanderer*innen setzte er sich ebenso ein wie für italienische Arbeitsmigrant*innen in Deutschland. "Es gab kaum eine Notsituation im kaiserzeitlichen Deutschland, deren Bekämpfung Werthmann nicht als Arbeitsgebiet für den Caritasverband reklamiert hat" (Wollasch 2008, S. 4). Für seine vielfältigen sozialpolitischen Leistungen wird er in Freiburg unter anderem dadurch geehrt, dass eine Straße und die Caritas-Zentrale nach ihm benannt sind, aber auch in zahlreichen anderen Städten gibt es "Lorenz-Werthmann-Häuser" und Werthmann-Strassen.

In den Darstellungen über Werthmann, z. B. anlässlich seines 150. Geburtsjahres 2008 (siehe Neher u. a. 2008), findet sich allerdings keine Auseinandersetzung mit seinen problematischen kolonialen Schattenseiten und seinem Eintreten für das sogenannte "Deutschtum". Dieser Beitrag, der erstmals im Jahr 2006 online ging und 2021 anlässlich Werthmanns 100. Todestag überarbeitet und erweitert wurde, gibt kein umfassendes biografisches Bild. Und er gibt auch keinen breiteren Überblick zum Thema katholische Kirche, Mission und Kolonialismus. Er bietet lediglich Anhaltspunkte für Werthmanns Haltung zum (deutschen) Kolonialismus und "Auslandsdeutschtum" und soll dadurch Impulse für vertiefte Forschungen und eine differenzierte Beschäftigung geben.

Inhalt

  1. Deutsche Kolonialkongresse [zum Kapitel]
  2. Debatte um "Rassenmischehen in den deutschen Kolonien" [zum Kapitel]
  3. "... ein Recht auf unsere Kolonien namens der Gerechtigkeit und der christlichen Religion" [zum Kapitel]
  4. Werthmann und das "hoffentlich im Siege vergrößerte deutsche Kolonialreich" [zum Kapitel]
  5. Siedlungspläne für das besetzte Baltikum während des Ersten Weltkriegs [zum Kapitel]
  6. Werthmanns Engagement im Verein für das Deutschtum im Ausland [zum Kapitel]
  7. Fazit: Heutiges Erinnern [zum Kapitel]
  8. Literatur [zum Kapitel]
Werthmann Abb.: Porträt von Lorenz Werthmann (aus Liese 1929, o.S.)


1. Deutsche Kolonialkongresse


Lorenz Werthmann war unter anderem ein Experte für Auswanderung und "Deutschtum in Übersee", also gleichzeitig klassischen Themen der deutschen Kolonialbewegung und -politik. Als Präsident des Caritasverbandes suchte er deren Nähe und war z. B. Mitglied des großen "Deutschen Kolonialkongresses 1910" im Berliner Reichstag. Der Caritasverband gehörte 1910 wie auch beim folgenden Kongress 1924 (der nun nach dem Weltkrieg aber kleiner ausfiel und nur noch an der Berliner Universität stattfand) zu den Veranstaltern, noch nicht aber bei den vorangegangenen Kongressen dieser Art 1902 und 1905.
Laut Grosse waren diese Kongresse Austragungsorte der größten und bedeutendsten öffentlichen Debatten über die deutsche Kolonialpolitik: "Unter Federführung der Deutschen Kolonialgesellschaft riefen rund 70 wissenschaftliche Einrichtungen, kirchliche Institutionen, nationale Verbände und Wirtschaftsvereinigungen zu diesen Veranstaltungen auf, um alle Personen zusammenzuführen, die im Deutschen Reich in koloniale Aktivitäten involviert oder an diesen interessiert waren." (Grosse 2005, S. 95). Auch wenn hier durchaus gestritten wurde, blieb die SPD mit ihrer Kolonialkritik außen vor.
An dem Kolonialkongress von 1910 nahmen 1.647 Personen teil. Werthmann brachte hier Wortbeiträge bei den Sektionen "Besiedelung deutscher Kolonien / Auskunftserteilung an Auswanderungslustige" und "Die weltwirtschaftlichen Beziehungen Deutschlands / Das Deutschtum in Übersee" ein. Bei letzterer Sektion verwies er auf die "energische Förderung" des "Deutschtums" durch den katholischen St. Raphaelsverein seit 40 Jahren (siehe Redaktionsausschuss (Hg.) 1910, S. 1009, 1102)
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Raphaelsverein
Der Raphaelsverein zum Schutze katholischer deutscher Auswanderer war Teil des Caritas-Verbandes (heute Raphaelswerk) und gehörte zu den Mitveranstaltern der Deutschen Kolonialkongresse 1902, 1905 und 1910. Die Geschäftsführung des Raphaelsvereins ging 1914 an Prälat Dr. Werthmann über und damit  wurde  auch die Hauptgeschäftsstelle von Limburg nach Freiburg verlegt.
Pater Sonnenschein, der als Spiritaner-Missionar  in Deutsch-Ostafrika tätig gewesen war, behauptete 1932 bei einem Vortrag in Freiburg, man habe den "kolonialen Gedanken" schon lange im Raphaels-Verein gepflegt (siehe Zeitungsbericht über die Rede Pater Sonnenscheins im Paulussaal 1932, Freiburger Tagespost vom 28.11.1932). Sonnenschein wurde am 17.7.1935 zum Vorstandsmitglied der Deutschen Kolonialgesellschaft ernannt (Bundesarchiv R 8023/749, Pag. 5).

Abb.: Ankündigung Kolonialkundgebung, Freiburger Zeitung, 20.11.1932 Scan

Lorenz Werthmann besuchte auch weiterhin Kolonialveranstaltungen, so etwa die Hauptversammlung der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG) in Hamburg vom 3.-7. Juni 1912, nachdem er sich nähere Informationen von ihr hatte zusenden lassen (Schreiben von Werthmann an DKG, 5. April 1912, Bundesarchiv, R 8023 / 760, Paginierung 416/417; Borgmann 1958, S. 319). Ob er an weiteren Hauptversammlungen teilnahm und ggf. inhaltlich auftrat, wäre weiter zu klären.  

2. Debatte um "Rassenmischehen in den deutschen Kolonien"

 Im August 1912 nahm Werthmann im Anschluss an den Deutschen Katholikentag in Aachen an einer Konferenz des "Missionsausschusses des Zentralkomitees der Katholikenversammlungen Deutschlands" teil. Sie wurde von M.d.R. Alois Fürst zu Löwenstein als Vorsitzendem geleitet, Werthmann fungierte als der Schriftführer. Hier unterstützte Werthmann den Wunsch des Straßburger Domkapitulars Msgr. Dr. P. Müller-Simonis, der erklärte,

"daß doch die Missionäre die größeren allgemeinen Veranstaltungen der Kolonialkongresse und die Versammlungen der Kolonialgesellschaft mehr als bisher besuchen möchten. Es sei von hoher Wichtigkeit, daß dort auch katholische Stimmen gehört würden und daß die katholischen Wünsche und Anschauungen zum Vortrag kämen. Bei der letzten Hauptversammlung der Kolonialgesellschaft seien zehn protestantische Missionäre zugegen gewesen, während von den katholischen Missionären nur P. Provinzial Acker - Knechtsteden an der überaus wichtigen Versammlung teilgenommen habe." (Caritasverband 1912, S. 29).

Dieser Aufruf erfolgte am Ende der Konferenz des Missionsausschusses, deren Hauptthema sich um "Rassenmischehen in den deutschen Kolonien" und die Haltung der katholischen Kirche dazu drehte. Diese Debatte wurde damals gerade intensiv geführt, etwa im Deutschen Reichstag. Das Hauptreferat des Zentrums-Politikers Justizrat Dr. Karl Bachem aus Berlin verdeutlicht die in diesen Reihen bestehende Spannung aus katholischer Lehre von der Gleichheit der Menschen und einem massiven Kolonialrassismus. Diese Spannung wird auch für Werthmann prägend gewesen sein. Dass Bachems Äußerungen in diesen Kreisen offenbar breit anerkannt waren, zeigte das Koreferat des Oblatenpaters und Provinzials Max Kassiepe, der sich auf eine Umfrage bei 20 Oberen verschiedener Missionsgesellschaften stützte (ebenda, S. 10). Werthmann meldete jedenfalls keinen Widerspruch, vielmehr publizierte sein Caritasverband die von ihm als Schriftleiter angefertigte Dokumentation der Tagung und die Aussagen sind durchaus auch mit späteren Aussagen Werthmanns kompatibel (s.u.). Wegen der Rolle Werthmanns bei der Tagung und für die Publikation werden hier im Folgenden einige Eckpunkte aus Bachems Rede wiedergegeben.

Buchcover "Rassenmischehen"

Abb.: Titel der in Freiburg beim Caritasverband erschienenen Dokumentation der Konferenz des Missionsausschusses des Zentralkomitees der Katholikenversammlungen 1912.

Bachem ging einerseits von verschiedenen "Rassen" aus und wandte sich gegen eine "Vermischung", begründete andererseits aber, warum katholische Geistliche in den Kolonien unter Umständen trotzdem Eheschließungen vornehmen müssten - notfalls auch gegen den Willen der Kolonialverwaltung oder der kolonialen Verbände. Die Missionare trügen ihren Schülern

"die Lehre der Bibel vor, daß vor Gott alle Menschen gleich sind, daß Jesus Christus, was das Gottesreich angeht, keinerlei Unterschied gemacht hat zwischen den Angehörigen aller menschlichen Stämme". Ein explizites staatliches Verbot von "Mischehen" müsse deshalb "das Zutrauen der schwarzen Zöglinge zu der Wahrhaftigkeit der Missionäre" stören und "damit das ganze Missionswerk" schwersten Schaden erleiden" (Caritasverband 1912, S. 6f).

Dennoch wurde eine angebliche "Minderwertigkeit" der afrikanischen Bevölkerung propagiert:

"Was zunächst den Standpunkt der katholischen Kirche angeht, so sind sämtliche Missionen ohne jede Ausnahme darüber einig, daß in unsern afrikanischen Kolonien Mischehen zwischen Weißen und Eingeborenen im höchsten Maße unerwünscht sind, und zwar sowohl aus kulturellen wie aus pastoralen Gründen. Die Gründe im einzelnen brauche ich in dieser Versammlung, deren Mitglieder sämtlich sachverständig sind, nicht auseinanderzusetzen. Anders liegt allerdings die Sache in unsern australischen Kolonien, besonders in Samoa. Die dortigen Eingeborenen stehen kulturell und intellektuell erheblich höher wie die meisten Eingeborenenstämme in unsern afrikanischen Kolonien, und dort liegt daher die Frage anders. Ich beschränke mich zunächst auf die Frage, soweit sie unsere afrikanischen Kolonien betrifft. Für diese gilt ausnahmslos der Satz, daß unsere Missionäre seit jeher alles tun, was in ihren Kräften steht, um derartige Rassenmischehen zu verhindern. Etwas anders ist aber die Frage, ob sie, wenn trotz ihres Abratens eine solche Ehe von katholischen Nupturienten verlangt wird, die Entgegennahme ablehnen können. Diese Frage ist unbedingt zu verneinen. Der katholische Missionär ist verpflichtet, zu einer derartigen Ehe mitzuwirken, wenn er seiner priesterlichen Pflicht nicht zuwider handeln will. Die katholische Kirche ist eine Weltkirche, keine Rassenkirche. Die katholische Kirche kennt kein Ehehindernis der Rassenverschiedenheit, und wenn durch Regierungsverordnung ein derartiges Hindernis eingeführt wird, so ist der katholische Missionär von Gewissens wegen nicht in der Lage, sich dein zu fügen." (ebenda, S. 6).

Von zentraler Bedeutung für diese unter Weißen geführte Debatte war die Frage der Stellung der sog. "Mischlingsbevölkerung", die in der Hierarchie der Rassentheorien eine Mittelstellung einnahm. Laut Bachem seien "Mischlingskinder" intelligenter und bildungsfähiger als schwarze (ebenda, S. 10). Bachem zeigte sich insofern 'pragmatisch', das sich laut ihm Kinder aus Verbindungen von Weißen (Männern) und Schwarzen (Frauen) trotz Verboten praktisch gar nicht verhindern ließen. In diesem Bevölkerungsanteil sah man sowohl Gefahren eines möglichen Aufbegehrens als auch Chancen für Mission und Kolonialstaat. Deshalb schlug Bachem die Zwangseinweisung der Kinder in Missionsinternate vor und kalkulierte, wie dies finanziert werden könne:

"Gewiß hätten wir vom Standpunkt unserer politischen Zukunft aus ein Interesse daran, eine Mischlingsbevölkerung nicht aufkommen zu lassen. Wie aber die Dinge liegen, wie sich in allen englischen, französischen usw. Kolonien gezeigt hat und wie sich jetzt auch in unsern deutschen Kolonien zeigt, läßt sich das Entstehen einer Mischlingsbevölkerung auf keine Weise hindern. Das ist im höchsten Maße traurig, da eben, wie erwähnt, 99% der Mischlinge aus wildem geschlechtlichen Verkehr hervorgehen. Mit dieser Tatsache wird aber gerechnet werden müssen. Dann ist aber die Frage nicht so zu stellen: Sollen Mischehen verboten werden? sondern die Frage ist anders zu stellen: Was muß von Staats wegen geschehen, um die Gefahr der unvermeidlichen Mischlingsbevölkerung möglichst herabzudrücken? Da ist zu antworten, daß dann eben gesorgt werden muß, daß diese Mischlingsbevölkerung nicht so erzogen wird, daß sie später die deutsche Herrschaft bekämpft, sondern daß sie die deutsche Herrschaft stützt. Wenn die Verwahrlosung der Mischlinge so weitergeht wie bisher, dann ist ohne Zweifel die Gefahr für die Zukunft groß. Werden diese Mischlinge aber in deutschfreundlichem Geiste erzogen, so können sie zu einem sehr brauchbaren Element für unsere deutschen Zwecke herangezogen werden. Das aber kann geschehen, wenn die Mischlinge geschlossen in den Missionen erzogen werden, sowohl in den katholischen wie in den protestantischen Missionen, je nach der Konfession ihrer Eltern. (…) Man kann die Pflicht der europäischen Väter, Alimente zu zahlen, durchführen und gleichzeitig die Anordnung treffen, daß die farbigen Kinder in den Missionen erzogen werden, wogegen dann die Alimentationsgelder der Väter an diese Missionen gezahlt werden müssen. Dann ist unter Umständen nur ein geringer Zuschuß des Staates nötig, um die Schulbildung dieser Kinder auf eine höhere Stufe zu bringen. Sie sind dann abgeschlossen von der schwarzen Bevölkerung und wachsen zu einem Element heran, welches der deutschen Herrschaft und der deutschen Kolonialpolitik dient." (ebenda, S. 9).

3. Werthmann und das "hoffentlich im Siege vergrößerte deutsche Kolonialreich"

Welche kolonialen Ziele Werthmann im Ersten Weltkrieg vertrat, wird aus einer Brandrede unter dem Titel "Ernst und Größe der gegenwärtigen Weltstunde" ersichtlich, die er am 27. September 1914, also kurz nach Kriegsbeginn, im (evangelischen) Freiburger Paulussaal an der Dreisam hielt:

„Und welcher Finanzieller Opfer unser Volk fähig ist, hat uns die Riesenüberzeichnung der Kriegsanleihe gezeigt. Hier darf ich wohl als Vertreter der katholischen Kirche mit demütigem Stolz darauf hinweisen, dass wie einst im Jahre 1813 (...) so auch jetzt die Kirchenbehörden ihre Gemeinden aufgefordert haben, an der Kriegsanleihe sich kräftig zu beteiligen. Ja, dass sie das Kostbarste, was sie besitzen, die schönsten Früchte ihres religiösen Lebens, dem Vaterlande zur Verfügung gestellt haben: tausende von barmherzigen Schwestern und Brüdern. (...)

Sollte Gott, wie wir alle hoffen, unseren Waffen seinen Beistand und sieghaften Erfolg verleihen, dann harren dem deutschen Volke neue große Friedensaufgaben: (...) Die dritte Aufgabe ist, die abgebrochenen Brücken des Welthandels wieder neu über die Staatsgrenzen und Weltmeere hinüberzuführen; eine vierte, die etwa in Blut und Kampf erworbenen Gebietsteile harmonisch mit dem deutschen Reiche zusammenzuschweißen. Eine fünfte Aufgabe ist das jetzt von den Feinden bedrängte, aber hoffentlich im Siege vergrößerte deutsche Kolonialreich, wieder auf- und auszubauen und mit dem Mutterlande in lebendige, fruchtreiche Wechselbeziehung zu setzen. Eine sechste: den mit den Kolonien neu erworbenen Untertanen die Segnungen des Christentums zu bringen. Eine Siebente: der deutschen Kultur und Wissenschaft unter allen Völkern der Welt die ihr gebührende Ehrenstellung wieder zu erringen“ (Werthmann 1914, S. 12f.).

Werthmann formulierte 1914 also klar, dass Deutschland seinen Kolonialbesitz im Krieg vergrößern solle. Neben dem Übergriff auf die ungefragten Kolonisierten hieß dies auch genau das zu tun, was später an den Siegermächten kritisiert wurde, nämlich den Konkurrenten Kolonien abzujagen.

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Abb.: Ankündigung aus Freiburger Zeitung, 27.9.1914; siehe auch den Bericht: "Vaterländische Kundgebung", Freiburger Zeitung, 28.09.1914.

Der nach dem "Verlust" der deutschen Kolonien mit dem Versailler Vertrag 1919 anschwellende Kolonialrevisionismus betonte immer die mangelnde "koloniale Gleichberechtigung Deutschlands" gegenüber den anderen Kolonialmächten (vgl. Linne 2008, S. 18ff.). Es wurde den Alliierten insbesondere vorgeworfen, mit der Einbeziehung der afrikanischen Kolonien in den Krieg die Kongo-Akte von 1885 verletzt zu haben. Allerdings gab es auch auf Seiten des deutschen Militärs und der Politik schon zu Kriegsbeginn konkrete Pläne (wenn auch nicht die Mittel), das deutsche Kolonialreich auf Kosten der gegnerischen Mächte zu vergrößern. Bereits am 28. August 1914 legte etwa der Staatssekretär im Reichskolonialamt, Heinrich Solf, ein Expansionsprogramm vor. Angola, Belgisch-Kongo, Französisch-Äquatorial-Afrika, Dahomey und ein Teil Senegambiens sollten in ein deutsches "Mittelafrika" integriert werden (Linne 2008, S. 15f.).

Unter den anderen Rednern der Vaterländischen Versammlung sprach mit Otto Winterer der Oberbürgermeister a. D., der persönlich Kolonialbeamte um Stiftungen für das 1895 gegründete städtische Völkerkundemuseum gebeten, 1909 für die Stadt Freiburg die Mitgliedschaft im Kolonialwirtschaftlichen Komitee erworben hatte und der Vater des Kolonialoffiziers Wilhelm Winterer war (Wegmann 2006). Der Redner Prof. Ernst Fabricius war ein Historiker und zeitweise Prorektor der Freiburger Universität, der sich in Freiburg im Rahmen der Fabricius-Fehrenbach-Kontroverse 1906/07 schon als scharfer Kolonialbefürworter einen Namen gemacht und das mangelnde koloniale Engagement der katholischen Zentrumspartei kritisiert hatte (Wegmann 2007).

4. "... ein Recht auf unsere Kolonien namens der Gerechtigkeit und der christlichen Religion"

Anfang 1919 zeichnete sich dann entgegen dieser auf ein riesiges Deutsch-Mittelafrika gerichteten Hoffnungen das Ende der deutschen Kolonialherrschaft ab, das im Juni 1919 mit der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags definitiv besiegelt wurde. Am 13. Februar 1919 fand im Vorfeld - wiederum im evangelischen Paulussal - eine große koloniale Protestversammlung statt. Auf der von den Freiburger politischen Parteien - diesmal sogar einschließlich der SPD, aber ohne die USPD - und der Deutschen Kolonialgesellschaft organisierten Kundgebung trat neben Politikern und dem wenige Monate vorher zum Professor berufenen Anthropologen und Kolonialbefürworter Prof. Eugen Fischer (auch er ein prominenter Gegner von "Rassenmischehen") auch wieder Lorenz Werthmann als Redner auf:

"Als Vertreter der christlichen Missionen beleuchtete dann Herr Prälat Dr. Werthmann die engen Beziehungen zwischen Kolonien und Heidenmissionen. Beide seien aufeinander angewiesen. Vor dem Kriege hätten 440 deutsche Missionsstationen bestanden und 270 000 Heiden seien heute Christen. Er würdigte die Kulturarbeit der Missionare und erinnerte an die schmachvollen Leiden durch die grausame Behandlung durch die Feinde während des Krieges. Wir hätten ein Recht auf unsere Kolonien namens der Gerechtigkeit und der christlichen Religion, die die Heidenbelehrung gebiete, dann namens des Kulturfortschritts der Menschheit und der Interessengemeinschaft der weißen Rasse. Gerade die Feinde hätten das Ansehen der Weißen in den Kolonien unverantwortlich geschändet. Den Missionaren dürfe ihr Arbeitsfeld nicht genommen werden." (Freiburger Zeitung, 14.02.1919, S. 1, ganzer Bericht).

Die "Interessengemeinschaft der weißen Rasse" und die "Schändung des Ansehens der Weißen in den Kolonien" waren gängige kolonial-rassistische Argumentationsmuster, die besagten, die kulturell und "rassisch" tiefer stehenden "Eingeborenen" würden ihren Glauben an die Höherwertigkeit der "weißen Rasse" verlieren, wenn sie sähen, wie Weiße gegen Weiße kämpften und dabei sogar Schwarze gegen Weiße eingesetzt würden. Neben dem aus der Rede sprechenden Rassismus wird deutlich, dass Werthmanns Konzept von christlicher Mission ganz klar an die politisch-militärische Beherrschung der zu 'belehrenden Heiden' geknüpft war. Laut Presseberichten wurde vom vollbesetzten Saal einstimmig eine flammende Resolution für den Erhalt des Kolonialreichs beschlossen:

"Deutschlands Anspruch auf kolonialen Besitz aber beruht auf der Stärke seiner Bevölkerung, auf der Größe seiner wirtschaftlichen Interessen, auf den unabweisbaren Bedürfnissen von Industrie, Handel und Landwirtschaft. (...) Sie wendet sich an Regierung und Nationalversammlung und bittet sie, tatkräftig einzutreten für unsere kolonialen Interessen eingedenk des Wortes: Diejenige Nation, die am meisten kolonisiert, ist die erste der Zeit, und wenn sie es heute nicht ist, so wird sie es morgen sein." Wie 1914 wurde hiermit sogar angedeutet, es nicht bei den bisherigen Kolonien belassen zu wollen, sondern in Zukunft "am meisten" kolonisieren zu wollen (siehe die Dokumentation der Resolution und den Veranstaltungsbericht in der Freiburger Zeitung, 14.02.1919).

Wenige Tage vor der erzwungenen Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages durch das Deutsche Reich referierte Werthmann am 16.6.1919 bei einer Tagung der Deutschen Kolonialgesellschaft zur Auswanderungsfrage im Sitzungssaal ihres Berliner "Afrikahauses". Er berichtete dort über die Stellung der freien Vereine zum Reichswanderungsamt (Einladung vom 6.6.1919 in Universitätsarchiv Freiburg C 68/4).

Werthmannplatz
Von 1926 bis zum Jahre 2007 gab es den Werthmannplatz vor der Uni-Bibliothek, der dann anlässlich des 550. Jubiläums der Uni in "Platz der Universität" umbenannt wurde. Gleichzeitig wurde der angrenzende Werderring in Werthmannstraße umbenannt.

Abb.: Schild Werthmanplatz vor der Umbenennung, Foto: H. Wegmann (2006)

5. Siedlungspläne für das besetzte Baltikum während des Ersten Weltkriegs

Während des Ersten Weltkrieges schloss sich Werthmann einem Kolonialprojekt an, das die deutsche Annexion und Germanisierung von bereits militärisch besetzten Gebieten im Baltikum zum Ziel hatte. Hierbei handelte es sich um einen heute wenig bekannten Vorgang, der durch den Historiker Ron Hellfritzsch im Rahmen einer Promotion an der Universität Greifswald erforscht wird. Organisatorischer Kern war die Vereinigung für deutsche Siedlung und Wanderung (VfdSW),

"einem vom Alldeutschen Verband initiierten Zusammenschluss sämtlicher namhafter Organisationen in Deutschland, die sich der Betreuung deutscher Auswanderer, der Unterstützung deutscher Minderheiten im Ausland sowie der Siedlungspolitik verschrieben hatten. Zu den Mitgliedern der VfdSW zählten u. a. die Deutsche Kolonialgesellschaft, die Gesellschaft zur Förderung der inneren Kolonisation, der Gustav-Adolf-Verein, der Verein für das Deutschtum im Ausland, der erwähnte Raphaelsverein zum Schutze katholischer deutscher Auswanderer, der Caritasverband sowie der Deutsche Ostmarkenverein. Vorsitzender wurde der ehemalige Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika Friedrich von Lindequist. (...) Ihr langfristiges Ziel war die Schaffung eines geschlossenen deutschen Siedlungsgebiets in Mitteleuropa, das als autarker und ethnisch homogener kontinentaler Machtblock die Basis für eine Weltmachtstellung des Deutschen Reiches bilden sollte. Dementsprechend verfolgte auch die VfdSW erklärtermaßen die Absicht, sämtliche Wanderungsbewegungen von Deutschen in aller Welt zentral zu organisieren und sie möglichst nach Deutschland bzw. in von Deutschland kontrollierte Gebiete zu lenken. Zum Teil ging es dabei um Umsiedlungsmaßnahmen, die Millionen Menschen betroffen hätten." (Hellfritzsch 2020, S. 60).

Kopf bzw. Meinungsführer der "katholische Seite" dieses breiter aufgestellten Projektes war der Berliner Seelsorger Clemens August von Galen, der spätere bekannte Kardinal und Bischof von Münster, den Werthmann nach Kräften unterstützte. Die Positionen und Ziele Galens und Werthmanns waren weit weniger radikal als die ausgreifenden europäischen Annexions- und Zwangsaussiedlungspläne der Vertreter etwa des Alldeutschen Verbandes. Gleichwohl gehörten beide 1916 zu den Gründungsmitgliedern des VfdSW. Galen ließ sich im Frühjahr 1917 in den Vorstand wählen und sorgte für den Beitritt weiterer katholischer Organisationen. Seine eigene Basis lag im westfälischen Verein katholischer Edelleute, in dem er 1916 seine Denkschrift über seinen Baltischen Siedlungsplan vorstellte. Galens Herkunft als adeliger Katholik lieferte ein wesentliches gesellschaftspolitisches Motiv für seinen Aufruf für einen "modernen Kreuzzug": Durch gelenkte Auswanderung und Kolonisation angeblich "freien" Siedlungslandes im Anschluss an die historische deutsche Ostkolonisation sollten soziale Spannungen im modernen Deutschland gemindert und

"zugleich an der neuerschlossenen Peripherie eine von gesellschaftlichen Konflikten befreite, stabile bäuerlich-konservative Gesellschaft aufbauen zu können, die im katholischen Milieu des deutschen Kaiserreiches auf Interesse stieß" (Hellfritzsch 2020, S. 52).

Die sozialromantische Vorstellung einer von katholischen Adeligen geführten, ständischen kolonialen Gesellschaft war somit eine konservative Variante des "Sozialimperialismus" - Kolonisierung als Gegenentwurf zur Demokratisierung. Dies ist auch im Kontext der Polarisierung zwischen dem rechten und dem Arbeiterflügel innerhalb des politischen Katholizismus zu sehen. Auch Werthmann war ein "Sozialreformer mit konservativer, bewusst systemstabilisierender Ausrichtung" (Wollasch 2008, S. 3), allerdings ohne adeligen Hintergrund.

Auf die Einzelheiten und Varianten der Siedlungspläne kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Festzuhalten bleibt aber, dass diese Pläne von kolonialromantischen Vorstellungen geprägt waren wie Hebung der Kultur, Christianisierung und auch freiwilliger Assimilierung der "niedriger stehenden" dortigen Bevölkerung. Angestrebt wurde eine Aufteilung der Siedlungsgebiete in jeweils geschlossene katholische und evangelische Gebiete, wobei Litauen und Teile Lettgallens (im heutigen Lettland) katholisch besiedelt werden sollten. Als Siedler*innen wurden sowohl Reichsdeutsche wie - insbesondere von Lorenz Werthmann - auch Rußland-Deutsche vorgesehen. Irritierend ist laut Hellfritzsch, wie wenig in den katholischen Plänen die realen Verhältnisse Litauens in den Blick genommen wurden, und dass man sich praktisch keine Gedanken über die Zukunft der jüdischen Bevölkerung in einem möglichst katholischen Sattelitenstaat machte. Während Galen meinte, die Siedlung könne und solle ohne Zwangsenteignungen und -Umsiedlungen in einem rechtlichen Rahmen erfolgen, soll Werthmann eine härtere Vorgehensweise akzeptiert haben:

"Gegen das Vorhaben der deutschen Militärbehörden, die polnischen Großgrundbesitzer Litauens zur Abgabe ihrer Ländereien zu zwingen, meldete Clemens August von Galen – im Gegensatz übrigens zum Prälaten Werthmann – deutliche Bedenken an" (Hellfritzsch 2020, S. 67).

Galen, Werthmann sowie der Pfarrer Markus Glaser brachen im August 1918 im Auftrag des VfdSW zu einer mehrwöchigen Erkundungsreise in das besetzte Baltikum auf. Zu diesem Zeitpunkt liefen die Vorbereitungen der Obersten Heeresleitung und der Reichsregierung,

"im Baltikum eine Reihe von Staatswesen errichten zu lassen, die nach innen als selbstständige staatliche Gebilde, jedoch nach außen als feste untrennbare Bestandteile des Deutschen Reiches erscheinen sollten. (...) Die Gegensätze zwischen den deutschen Vorhaben im Baltikum und den Wünschen der davon betroffenen Bevölkerungsgruppen traten jedoch immer mehr hervor. (...) Von Galen, Werthmann und Glaser sollten also helfen, die Wogen zu glätten, und vor allem im litauischen Klerus
bzw. durch diesen in der litauischen Bevölkerung für eine die Annexion Litauens durch Deutschland begünstigende Stimmung sorgen." (Hellfritzsch 2020, S. 63ff.).

Die Delegierten versprachen bei ihrer Rückreise zwar, die deutschkatholische Ansiedlung in Litauen einzuleiten, aber zumindest bei Galen hatte die Reise doch zu einer Entmutigung geführt und er begann, sich abzuwenden. Hellfritzsch bilanziert in Bezug auf Galens Projekt:

"Die Suche nach Unterstützung für sein Siedlungsprojekt ließ von Galen letztlich an Vorhaben und Strukturen mitwirken, die tatsächlich als Vorboten späterer nationalsozialistischer Lebensraum-Planungen betrachtet werden können. Sein Festhalten an seiner grundsätzlichen Ablehnung von Enteignungen und Zwangsumsiedlungen ließen bei ihm aber allmählich Zweifel entstehen. Zu einem Schlüsselerlebnis wurde für von Galen eine Reise nach Litauen und nach Lettgallen, in deren Folge er sich ernüchtert von seinen Vorhaben zu distanzieren begann. Früher als vielen anderen Beteiligten wurde ihm damit letztlich die Realitätsferne bewusst, in der sich jene Pläne für eine deutsche Kolonisation des Baltikums bewegten." (Hellfritzsch 2020, S. 70.).

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sah Werthmann eine "drohende Auswandererflut im neuen Deutschland", so der Untertitel seiner Broschüre über "Fünfzig Jahre Raphaelsverein" vom April 1919. Darin eruierte er mögliche Auswanderungsziele und kam zu dem Schluß, dass Afrika für eine deutsche Massenaussiedlung "aus verschiedenen Gründen dauernd ausgeschlossen" sei, "selbst wenn wir, was unwahrscheinlich, beim Friedensschluß unsere Kolonien wiedererhalten sollten (...)". Dagegen gab er im Wortlaut eine längere Passage über Einbürgerungs- und Ansiedelungsmöglichkeiten deutscher Freikorps-Offiziere und Soldaten wieder, die das "Anwerbebureau Baltenland" versprach (Werthmann 1919, S. 18).

6. Werthmanns Engagement im Verein für das Deutschtum im Ausland

 Werthmann war Mitglied der Männer-Ortsgruppe Freiburg des "Allgemeinen Deutschen Schulvereins zur Erhaltung des Deutschtums im Auslande" bzw. ab 1908 "Vereins für das Deutschtum im Ausland" (VDA). Der VDA vertrat eine nationalistische Kulturpolitik, die komplementär zu der auf die formalen Kolonien ("Deutsche Schutzgebiete") ausgerichteten Politik der Kolonialverbände war, mit denen er auch kooperierte. So lagen Schwerpunkte des VDA etwa in der spezifischen Förderung deutscher Kultur bei den deutschen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa. Gerade der Badische Landesverband unterstützte auch "Badische Kolonien" in Tovar (Venezuela) und eine deutsche Schule in Ponta Grossa (Südbrasilien).

Im VDA gab teilweise deutlich völkische Tendenzen. In der Freiburger Ortsgruppe hielt etwa Prof. Ludwig Schemann  1902 einen mit viel Zustimmung aufgenommenen Vortrag über "Gobineau und seine Rassenlehre" (Bericht im Freiburger Tagblatt vom 14.03.1902). Joseph Arthur de Gobineau (1816-1882) war einer der verhängnisvollsten Vordenker und Wegbereiter von Antisemitismus und Rassismus im 19. Jahrhundert. Der in völkischen Kreisen gut vernetzte und Freiburg lebende Schemann (1852-1938) setzte es sich zum Lebensziel, Gobineaus Werk zu verbreiten, indem er dessen Werke übersetzte und die deutsche Gobineau-Vereinigung gründete und leitete. Wie Werthmann zu Gobineau und Schemann stand und ob Werthmann und Schemann in Freiburg in Kontakt standen, müsste untersucht werden.

Am 1. Oktober 1915 teilte der Vorsitzende des Freiburger VDA-Ortsvereins, Universitätsprofessor Geh. Hofrat Dr. Schulze, dem Freiburger Oberbürgermeister mit, dass dieses Jahr der Deutsche Gesamtverein seine Jahresversammlung in München abhalte. Daran werde als Vertreter des Freiburger Ortsvereins Geistlicher Rat Monsignore Dr. Werthmann teilnehmen. Die Ortsgruppe habe die Absicht, den deutschen Verein, der nach einem siegreichen Krieg für die Festigung des Deutschtums im Ausland an Bedeutung ganz wesentlich gewinnen werde, zu einer Tagung in Freiburg in einem der nächsten Jahre einzuladen. Prof. Schulze fragte bei der Stadt an, wie diese sich dazu stellen würde. Der Oberbürgermeister erwiderte, dass er für seine Person sehr gerne die Ermächtigung zu dieser Einladung erteile, und er glaube, dass der Stadtrat zweifellos auch zustimmen werde, den Verein in einem der kommenden Jahre nach dem Krieg in Freiburg begrüßen zu können. Am 6. Oktober 1915 beschloss der Stadtrat dann, dass er damit einverstanden sei, wenn "der Verein für das Deutschtum im Ausland zu einer Tagung in einem der kommenden Jahre nach dem Kriege hierher eingeladen wird" (Stadtarchiv Freiburg C 3/353/9).

Lorenz Werthmann trat nach dem Ersten Weltkrieg öffentlich bei einer Veranstaltung des VDA über "Die Zukunft des Deutschtums in der Welt" im Paulussaal auf. Die Freiburger Zeitung zitierte seine mit viel Beifall aufgenommene Rede:

"Durch den Ausgang des Krieges seien unsere Hoffnungen jäh zusammengebrochen. Wir hätten auf der Höhe des Glücks mit einer starken Rückwanderung gerechnet und jetzt müssten wir wegen der gewaltigen Arbeitslosigkeit unter allen Berufsständen auf eine notgedrungene Auswanderung von 5-10 Millionen gefasst sein. Der Stand unserer Valuta und die hohen Produktionskosten schlössen uns vom Weltmarkt aus. Dazu kämen die inneren Unruhen und die Arbeitsunlust. (...) Besonders müsse darauf geachtet werden, daß der Auswanderer die deutsche Kultur, Sprache, Religion und Sitte nicht verliere. Hindernisse der verschiedensten Art gelte es wegzuräumen. Dazu müssten alle Kräfte angespannt werden. Denn wenn auch alles untergehe, das Deutschtum müsse bestehen." (Freiburger Zeitung, 18.03.1919. Artikel).

7. Heutige Erinnerung

Heutzutage wird Lorenz Werthmann allein für seine sozialen Anliegen erinnert und geehrt. Beim Deutschen Caritasverband heißt es im Beitrag über den "Partner und Anwalt der Benachteiligten":

"Werthmann war ein genialer Netzwerker und ein Wegbereiter einer Freien Wohlfahrtspflege, die in einer konstruktiv-kritischen Distanz zum Staat steht. Er sah die Kirche und ihre Caritas in der Verantwortung, an der Gestaltung des Sozialstaates mitzuwirken und für die Rechte von benachteiligten Menschen einzutreten. Er lehnte einen von ihm so bezeichneten 'Fürsorgeabsolutismus' des Staates ab und meinte, dass es im Interesse des Gemeinwohls und des einzelnen Bürgers eine freie Wohlfahrtspflege neben der staatlichen Wohlfahrtspflege geben müsse. Modern gesprochen ging es ihm um Wahlfreiheit für den einzelnen. Für ihn war die organisierte Caritas die Sozialbewegung der Kirche mit gesellschaftlicher Sprengkraft. Dieses Selbstverständnis prägt die verbandliche Caritas bis heute in ihrer Funktion als Anwalt, Dienstleister und Solidaritätsstifter." [Website des DCV, Zugriff 5.4.2021]

Für ein differenziertes Bild von Werthmanns Tätigkeit und Weltsicht wäre es von Bedeutung, noch genauer zu untersuchen, welchen Stellenwert darin Kolonialgedanke und "Deutschtümelei" gespielt haben.



Im Jahre 1997 wurde anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Deutschen Caritasverbandes und im Gedenken an seinen Gründer erstmals der "Lorenz-Werthmann-Preis" zur Förderung der Sozialen Arbeit in Deutschland und der wissenschaftlichen Befassung mit Aufgaben und Tätigkeiten der freien Wohlfahrtspflege gestiftet.


Abb.: Schild Lorenz-Werthmann-Haus, Karlstr. 40 in Freiburg. (Foto: H. Wegmann 2006)

Heiko Wegmann (Freiburg 2006, zuletzt erweitert und aktualisiert 16.11.2021)

8. Literatur

  • Borgmann, Karl (Hg.): Lorenz Werthmann. Reden und Schriften, Freiburg i. Br. 1958

  • [Caritasverband]: Die Rassenmischehen in den deutschen Kolonien. Das Internationale Institut für missionswissenschaftliche Forschungen und die Ansiedlung von Katholiken in den Kolonien. Verhandlungen des Missionsausschusses des Zentralkomitees der Katholikenversammlungen Deutschlands am Freitag, den 16. August 1912 im großen Saale des Karlshauses zu Aachen (Vorsitzender: Alois Fürst zu Löwenstein, Schriftführer: Msgr. Dr Werthmann), Caritasverband für das katholische Deutschland, Freiburg im Breisgau 1912

  • Neher, Peter / Ingeborg Feige / Andreas C. Wollasch / Hans-Josef Wollasch: Lorenz Werthmann. Caritas-Macher und Visionär, Freiburg 2008

  • Grosse, Pascal: Die Deutschen Kolonialkongresse in Berlin 1902, 1905 und 1910, in: Ulrich van der Heyden / Joachim Zeller (Hg.): "... Macht und Anteil an der Weltherrschaft" Berlin und der deutsche Kolonialismus, Münster 2005, S. 95-100

  • Hellfritzsch, Ron: Die Wiedergewinnung der alten „Terra Mariana“. Clemens August von Galens baltischer Siedlungsplan (1916–1919), in: Deutsch–Baltisches Jahrbuch, Jahrbuch des baltischen Deutschtums, Neue Folge, Band 68 (Lüneburg 2020), S. 40-70

  • Hellfritzsch, Ron: Die Wiedergewinnung der alten "Terra Mariana". Clemens August von Galens baltischer Siedlungsplan 1916–1919, in: Peter Bürger und Ron Hellfritzsch (Hg.): Das Bistum Münster im Ersten Weltkrieg. Forschungen – Quellen, kirche & weltkrieg digitalbibliothek Band 13, Düsseldorf 2022, S. 73-118 download der digitalen Buchfassung (pdf), siehe dort auch die Quellendokumentation

  • Liese, Wilhelm: Lorenz Werthmann und der Deutsche Caritasverband, Freiburg i. Br. 1929

  • Linne, Karsten: Deutschland jenseits des Äquators? NS-Kolonialplanungen für Afrika, Berlin 2008

  • Redaktionsausschuss (Hg.): Deutscher Kolonialkongress 1910. Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses zu Berlin am 6., 7. und 8. Oktober 1910, Berlin 1910

  • Werthmann, Lorenz: Ernst und Größe der gegenwärtigen Weltstunde, in: Reden. Gehalten von den Herren Oberbürgermeister a. D. Dr. Winterer, Prälat Dr. Werthmann und Stadtpfarrer Schwarz in der Vaterländischen Versammlung am 27. September 1914 im Paulussaale in Freiburg im Breisgau, Freiburg 1914, S. 9-14

  • Werthmann, Lorenz: Fünfzig Jahre Raphaelsverein zum Schutze katholischer deutscher Auswanderer und die drohende Auswandererflut im neuen Deutschland. Caritas-Verlag Freiburg i. Br. 1919

  • Wegmann, Heiko: Prof. Ernst Fabricius (1857-1942). Berühmter Limes-Forscher, Deutschtumsfunktionär und Kolonialapologet, Freiburg 2007 / zuletzt aktualisiert 2017 Text

  • Wegmann, Heiko: Der Freiburger Kolonial-Offizier und Autor Wilhelm Winterer, Freiburg 2006 / zuletzt aktualisiert 2011 Text

  • Wollasch, Andreas: Lorenz Werthmann (1858 - 1921). Caritaspräsident, Priester, Sozialreformer, 2008, pdf-download auf caritas.de

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