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Freiburger Persönlichkeiten: Der Wissenschaftler Max Weber

Professor u.a. an der Universität Freiburg;

Nationalökonom, Soziologe (21.4.1864-14.6.1920)

Max Weber bei Wikipedia

 

Zu Akteuren der Kolonialbewegung in Freiburg siehe:

Max Weber in seiner vielzitierten Freiburger Antrittsvorlesung 1895: "Wir müssen begreifen, dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte."

Weber Collage


„Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik“ –

 Kolonialismus, Rassismus und Deutschtum bei Max Weber

Von Geert Naber *, März 2007 (überarbeitete und erweiterte Fassung)

Professor Max Weber (geb. am 21. April 1864, gest. am 14. Juni 1920) gilt als ein Klassiker des soziologischen und politischen Denkens. Aus seiner Feder stammt eine Fülle von Texten, die bis in die Gegenwart hinein die sozialwissenschaftliche Debatte beeinflussen. Sein Leben und Werk durchzieht allerdings ein Hang zu nationalistischen und sozialdarwinistischen Positionen. Der folgende Text zeichnet nach, in welchem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Feld sich Max Weber bewegt und welche Brüche und Kontinuitäten zwischen seinem Früh- und Spätwerk bestehen.

Die Freiburger Antrittsvorlesung

Ein Kernstück des Weber’schen Frühwerks entsteht während seiner Freiburger Jahre. An der Universität der südbadischen Stadt lehrt Max Weber (als Nachfolger von Eugen von Philippovich) vom Herbst 1894 bis zum Herbst 1896 Nationalökonomie. Mit seiner in der Publikationsfassung Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik überschriebenen Antrittsvorlesung vom 13. Mai 1895 sorgt er für beträchtliche Furore in den politischen und staatlichen Eliten des Wilhelminischen Deutschlands. Sie wird von den Anhängern einer expansiv-kolonialistischen Machtpolitik begeistert aufgenommen, macht sich der Freiburger Professor doch mit pathetischer Rhetorik für eine dem „Deutschtum“ verbundene Volkswirtschaftslehre stark:

„Die Volkswirtschaftspolitik eines deutschen Staatswesens ebenso wie der Wertmaßstab des deutschen volkswirtschaftlichen Theoretikers können deshalb nur deutsche sein. (…) Nicht Frieden und Menschenglück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art. Und wir dürfen uns nicht der optimistischen Haltung hingeben, dass mit der höchstmöglichen Entfaltung wirtschaftlicher Kultur bei uns die Arbeit gethan sei und die Auslese im freien und ‚friedlichen’ ökonomischen Kampfe dem höher entwickelten Typus alsdann von selbst zum Sieg verhelfen werde. Nicht in erster Linie für die Art der volkswirtschaftlichen Organisation, die wir ihnen überliefern, werden unsere Nachfahren uns vor der Geschichte verantwortlich machen, sondern für das Maß des Ellenbogenraums, den wir ihnen in der Welt erringen und hinterlassen. Machtkämpfe sind in letzter Linie auch ökonomische Entwicklungsprozesse, die Machtinteressen der Nation sind, wo sie in Frage gestellt sind, die letzten und entscheidenden Interessen, in deren Dienst ihre Wirtschaftspolitik sich zu stellen hat, die Wissenschaft von der Volkswirtschaftspolitik ist eine politische Wissenschaft. Sie ist eine Dienerin der Politik, nicht der Tagespolitik der jeweils herrschenden Machthaber und Klassen, sondern der dauernden machtpolitischen Interessen der Nation.“ (MWG I/4, S. 560 f.).

Eugen Freiherr von Philippovich (1858-1917) lehrt von 1885 bis 1893 politische Ökonomie an der Universität Freiburg. Sein wissenschaftlich-politisches Denken ähnelt der Weberschen Vorstellungswelt. Von Philippovich, Mitarbeiter des 1873 gegründeten Vereins für Sozialpolitik, engagiert sich für eine „nationale Integration und Mobilisierung“ der Arbeiterschaft durch eine Kombination aus Sozialstaatsausbau und Kolonialpolitik. Folglich kann nicht überraschen, was Recherchen von freiburg-postkolonial.de zu Tage gefördert haben: Von 1889 bis 1892 fungiert der Professor für politische Ökonomie als erster Vorsitzender der oberbadischen Abteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft (siehe Bundesarchiv, R 8023 / 732, Paginierung 7 sowie Einwohner-/Adressbücher der Stadt Freiburg dieser Jahre). In seinen Publikationen macht von Philippovich sich Gedanken über effektive Strategien „überseeischer Politik“ und beschäftigt sich mit dem Entwicklungsgang der wirtschafts- und sozialpolitischen Systeme und Ideale. So lautet sein Beitrag für das von Max Weber geplante, aber nicht publizierte Handbuch Grundriss der Sozialökonomik.

Zuckerbrot und Peitsche für die Arbeiterschaft

Das ideologische Gerüst der Freiburger Antrittsvorlesung wird von Max Weber nicht im Alleingang errichtet. Es kristallisiert sich heraus vor dem Hintergrund seines Engagements in wissenschaftlich-politischen „Thinktanks“ der Wilhelminischen Ära. So schließt sich Weber Ende der 1880er Jahre dem Verein für Sozialpolitik und dem Evangelisch-sozialen Kongress an. Hierbei handelt es sich um einflussreiche Lobbyorganisationen, gegründet und geprägt von Gelehrten, die des Öfteren spöttisch als „Kathedersozialisten“ etikettiert werden. Sowohl der Verein für Sozialpolitik als auch der Evangelisch-soziale Kongress sehen sich in einer doppelten Frontstellung, nämlich gegen die „einseitigen Klassenstandpunkte“ einer marxistisch inspirierten Sozialdemokratie auf der einen und einer den ungezügelten Kapitalismus favorisierenden Manchesterschule auf der anderen Seite. Die kathedersozialistischen Kreise plädieren für eine obrigkeitsstaatliche Sozialreform, um den revolutionären Tendenzen im Proletariat durch die Aufnahme „berechtigter Arbeiter-Anliegen“ den Boden zu entziehen. Solche Akte der „Versöhnung“ sind eingeflochten in einen Politikentwurf mit ausgesprochen repressiver und nationalistischer Ausrichtung. Das Gros der Kathedersozialisten plädiert für Zwangsmaßnahmen gegen die Sozialdemokratie. Zugleich wird einer imperialistisch gefärbten Rüstungs- und Kolonialpolitik das Wort geredet. Das expansive Flottengesetz von 1899/1900 erfährt folgerichtig Unterstützung durch den Verein für Sozialpolitik (vgl. Rehmann 1998, S. 47 f.).

Obendrein treibt etliche kathedersozialistische Exponenten die Sorge vor einer „Proletarisierung“ und „Polonisierung“ der östlichen Provinzen des Kaiserreichs um. Deshalb wird beschlossen, diesen agrarisch strukturierten Raum zu untersuchen und Strategien zu entwerfen für eine den „preußischen Werten“ verbundene Modernisierung der deutschen Ostgebiete. Max Weber ist maßgeblich an den vom Verein für Sozialpolitik initiierten Untersuchungen beteiligt. Davon zeugen seine 1892 veröffentlichten Erhebungen zur Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. Aus dem 900seitigen Werk leitet Weber in der Folgezeit politische Diagnosen und Forderungskataloge ab, die er kundtut in zahllosen Vorträgen und Aufsätzen. Deren Quintessenz lautet: Die Existenzprobleme des ostdeutschen Großgrundbesitzes verstärkten die Abwanderung deutscher Landarbeiter in die Städte und damit das „ungeheure proletarische Bevölkerungsreservoir“. Um diese sozialstrukturellen Verwerfungen beherrschbar zu machen, bedürfe es einer wirtschaftlichen und politischen Ausdehnung des deutschen Machtbereichs „nach außen“.

Max Weber

Graffito von Max Weber im Hof der Freiburger Max Weber-Schule (Foto: Heiko Wegmann 2006).

Deutschtum und innere Kolonisation

Max Weber drängt aber auch darauf, dem Zustrom polnischer „Wanderarbeiter“ in den Osten Deutschlands entgegenzuwirken – durch eine Schließung der Grenzen zu Russland/Polen und durch eine „innere Kolonisierung“, die tief in die Grundbesitzverteilung eingreife. Der Staat müsse Boden aufkaufen, der dann an Deutsche weiter zu verpachten sei. Allerdings nicht an „kleine Zwergbauern“, die bloß zu einem ärmlichen „Grundbesitzer-Proletariat“ verkümmern würden, sondern an „kapitalkräftige Domänenpächter“, die zusätzlich noch in den Genuss staatlicher Gelder zur Steigerung der Bodenfruchtbarkeit gelangen sollten.

Die Weber’schen Vorschläge zur inneren Kolonisierung sind durchtränkt von rassistischer Ideologie. „Deutschtum“ und „Kultur“ hält Max Weber für identisch. Das betont er im September 1894 bei den Verhandlungen des Alldeutschen Verbandes zur Polenfrage. Er fühlt sich aber von den tonangebenden Zirkeln dieses nationalistisch-kolonialistischen Agitationsvereins nicht ernst genommen: Die Alldeutschen setzen sich nach Ansicht Webers in der Polenfrage nicht entschieden genug für das „Deutschtum“ ein, das der Freiburger Professor in mehreren Aufsätzen als in hohem Maße bedroht darstellt. So warnt er in einem berühmten Aufsatz zu Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter (1894) vor „einer slavischen Überfluthung, die einen Kulturrückschritt von mehreren Menschenaltern bedeuten würde“ (MWG I/4, S. 458).

Der Alldeutsche Verband, dessen Mitglieder vor allem aus dem gehobenen Bildungs- und Besitzbürgertum stammen, besteht von 1891 bis 1939. Während des Kaiserreichs agitiert er öffentlichkeitswirksam für eine imperialistische Kolonialpolitik und den Flottenausbau. Nach dem Ersten Weltkrieg treten die antisemitischen Elemente der alldeutschen Programmatik immer deutlicher hervor. Angeführt wird der Alldeutsche Verband von wichtigen Wegbereitern der NS-Ideologie. Genannt seien der deutschnationale Großverleger Alfred Hugenberg und Carl Peters, der Gründer Deutsch-Ostafrikas (vgl. Rehmann 1998, S. 41 f.).

Ankündigung von Max Webers Vortrag "Das Polenthum in den deutschen Ostmarken" beim Alldeutschen Verband, Freiburger Zeitung, 13.03.1897, 4. Seite

In einem Text über Die ländliche Arbeitsverfassung, der aus einem 1893 auf einer Tagung des Vereins für Sozialpolitik gehaltenen Referat hervorgeht, fabuliert Weber über den fortgesetzten „Einbruch östlicher Nomadenschwärme“, die durch ihre „verschieden konstruierten Mägen“ unsere Kultur „auf das Niveau einer tieferen, östlicheren Kulturstufe“ herabdrückten. „Vom Kulturstandpunkt“ sei die „Einfuhr der Polen“ sogar gefährlicher als selbst die Einfuhr chinesischer Kulis, „denn mit den Kulis assimilieren sich unsere deutschen Arbeiter nicht, wohl aber ist dies mit den halbgermanisierten Slaven unseres Ostens gegenüber den Polen der Fall“ (MWG I/4, S. 182 f.). Dieser Bezug ist bemerkenswert, da Weber im Unterschied zu vielen anderen dem Bildungsbürgertum entstammenden Intellektuellen chinafeindlich eingestellt war und somit seinem Hass auf die Polen besonderen Ausdruck verleiht.

Auch in der Freiburger Antrittsvorlesung finden sich zahlreiche Passagen, die vor antipolnischen Ressentiments strotzen und sich eines Jargons bedienen, der bisweilen frappierende Ähnlichkeiten mit der Untermenschen-Terminologie in Hitlers „Mein Kampf“ von 1923 aufweist. Max Weber fordert mit Inbrunst ein staatliches Eingreifen zugunsten der „germanischen Rasse“, da deren Vormachtstellung durch die „erdnahen Polen“ gefährdet sei: „Der polnische Kleinbauer gewinnt an Boden, weil er gewissermaßen das Gras vom Boden frisst, nicht trotz, sondern wegen seiner tiefstehenden physischen und geistigen Lebensgewohnheiten.“ (MWG I/4, S. 553). Die Hoffnung, das „Deutschtum“ trage im „freien Spiel der Kräfte“ den Sieg davon, hält Weber deshalb für naiv: „Die Menschengeschichte kennt den Sieg von niedriger entwickelten Typen der Menschlichkeit und das Absterben hoher Blüthen des Geistes- und Gemütslebens, wenn die menschliche Gemeinschaft, welche deren Träger war, die Anpassungsfähigkeit an ihre Lebensbedingungen verlor, es sei ihrer sozialen Organisation oder ihrer Rassenqualitäten wegen.“ (ebd., S. 554).

Bürgertum und überseeische Machtpolitik

Den bürgerlichen Schichten des Kaiserreichs macht der selbst bildungsbürgerlich erzogene Max Weber in seiner Antrittsvorlesung zum Vorwurf, sich dem adligen Bismarck unterworfen und zu wenig für den Schutz und die weltweite Expansion des „Deutschtums“ getan zu haben: „Nicht aus eigener Kraft des Bürgertums ist der deutsche Staat geschaffen worden, und als er geschaffen war, stand an der Spitze der Nation jene Cäsarengestalt aus anderem als bürgerlichem Holze. Große machtpolitische Aufgaben wurden der Nation nicht abermals gestellt, weit später erst, schüchtern und halb widerwillig, begann eine überseeische ‚Machtpolitik’, die diesen Namen nicht verdient“ (ebd., S. 568). Der 1871 gegründete deutsche Nationalstaat benötige aber einen weltpolitischen Aufbruch als Lebenselixier: „Wir müssen begreifen, dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte.“ (ebd., S. 571).

Max Weber Schule Max-Weber-Schule in der Fehrenbachallee (Die Allee ist nach dem aus Freiburg stammenden Reichskanzler benannt). Foto: Heiko Wegmann 2006

Anfang 1897 wechselt Max Weber an die Universität Heidelberg, hält aber an der darwinistisch-endzeitlichen Vorstellungswelt der Freiburger Antrittsvorlesung fest. Hiervon zeugt zum Beispiel ein Diskussionsbeitrag beim Evangelisch-sozialen Kongress im Juni 1897: „Wenn Herr Kollege Oldenberg damit gedroht hat, dass einst die Erde und ihr Brot knapp werden würde, so meinen wir, dass nicht die angebliche Exportpolitik, sondern die Volksvermehrung es ist, welche - möge die Wirtschaftsverfassung der Erde sein welche sie will, es ist, was den Kampf ums Dasein, den Kampf des Menschen mit dem Menschen, in Zukunft wieder schwerer und härter gestalten wird, und wir leiten daraus das Evangelium des Kampfes ab als einer Pflicht der Nation, als ökonomisch unvermeidliche Aufgabe wie des Einzelnen so der Gesamtheit, und wir ‚schämen’ uns dieses Kampfes, des einzigen Weges zur Größe, nicht.“ (MWG I/4, S. 638). Mit ähnlich dramatischem Vokabular appelliert Weber wenig später an die „nationalen Instinkte“ der proletarischen Bevölkerungsschichten: „Die deutsche Arbeiterschaft hat heute noch die Wahl, die Arbeitsgelegenheit im Vaterlande oder auswärts zu suchen. Dies wird aber in nicht allzu langer Zeit definitiv zu Ende sein, ob die Arbeiter wollen oder nicht. Der Arbeiter wird dann ausschließlich auf denjenigen Ernährungsspielraum beschränkt sein, den ihm das Kapital und die Macht seines Vaterlandes zu schaffen weiß. Wann sich diese Entwicklung vollzieht, weiß man nicht, sicher ist aber, dass sie sich vollzieht, sicher ist die Entstehung eines Kampfes um die Macht an Stelle eines scheinbaren friedlichen Fortschrittes.“ (MWG I/4, S. 851).

In Anbetracht derartiger Äußerungen kann es nicht erstaunen, dass Friedrich Naumann zu einem der engsten Freunde Max Webers avanciert. Besonders angetan ist der nationalliberale Politiker vom ideologischen Ferment der Freiburger Antrittsvorlesung. Für Naumann zählt Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik zu den wichtigsten Impulsgebern der Modernisierung imperialistischen Denkens: „Das geträumte Menschenglück im Allgemeinen kommt nicht, immer wird Kampf sein, und unsere Aufgabe ist es, unseren Nachfahren für ihren Kampf den Boden zu ebnen. (…) Hat er nicht recht? Was nützt uns die beste Sozialpolitik, wenn die Kosaken kommen? Wer innere Politik betreiben will, der muss erst Volk, Vaterland und Grenzen sichern, er muss für nationale Macht sorgen. (…) Wir brauchen einen Sozialismus, der regierungsfähig ist. Regierungsfähig heißt: fähig, bessere Gesamtpolitik treiben als bisher. (…) Ein solcher Sozialismus muss deutsch-national sein.“

Friedrich Naumann (1860-1919) gehört im Kaiserreich zu den prominentesten Repräsentanten eines „liberalen Imperialismus“, der gegen konservativen Ständedünkel agitiert und sich zwecks Stärkung deutschnationaler Ideen für ein Bündnis aus Hohenzollern-Dynastie, liberalem Bürgertum und der sozialdemokratisch orientierten Arbeiterbewegung stark macht. Von 1907 bis 1918 ist der evangelische Theologe Mitglied des Reichstags und engagiert sich dort insbesondere für die außenwirtschaftlichen Expansionspläne der „modernen“ Kapitalfraktionen (Chemie- und Elektroindustrie). Außerdem betätigt er sich als Fürsprecher des Kolonialideologen Carl Peters, der wegen seiner Brutalität sogar bei vielen Verfechtern „überseeischer Politik“ verpönt ist: „Der Ex-Pfarrer Naumann fand das brutale Herrenmenschentum des Pfarrersohnes Peters entschuldbar: Zur Eroberung von Kolonialimperien brauche man nun einmal solche Menschentypen.“ (Radkau 2005, S. 513)

Webers Spätwerk – Abkehr von der Deutschtümelei?

Friedrich Naumann neigt zu einem noch schrofferen Sozialdarwinismus als Max Weber. Dennoch hält ihre Freundschaft zeitlebens. Das Bekenntnis zu einer nationalen Machtstaatspolitik beschränkt sich nämlich keinesfalls auf das Weber’sche Frühwerk. In den späteren Schriften stößt man ebenfalls immer wieder auf Ausführungen, die erkennen lassen, dass Weber bis zu seinem Tod an zentralen Argumentationsfiguren und Begriffsanordnungen der Freiburger Antrittsvorlesung festhält. Nationalistisches Denken legt er zum Beispiel an den Tag, wenn er noch in der Endphase des 1. Weltkriegs die deutsche Bevölkerung als „Herrenvolk“ tituliert. Oder wenn er sich im November 1916 in der Schrift Deutschland unter den europäischen Weltmächten (MWG I/15) Gedanken über „Großmachtpolitik“ macht. „Dabei interessiert Weber allerdings weniger jener pompös inszenierte Kolonialismus, der sich in Teilen der deutschen Öffentlichkeit großer Beliebtheit erfreut und auch in der politischen Führung des Reiches, namentlich in der Person des Kaisers, durchaus seine Anhänger hat. (…) Primäres Ziel der deutschen Politik muss in Webers wie in den Augen der liberalen Imperialisten überhaupt die Sicherung der Weltmärkte sein, ohne die nach Auffassung der Zeitgenossen das Deutsche Reich kaum überlebensfähig ist.“ (Schöllgen 1998, S. 141).

Kritik an Nationalismus und Imperialismus betrachtet auch der späte Weber, ganz im Einklang mit dem martialischen Duktus der Freiburger Antrittsvorlesung, als Landesverrat. Besonders abfällig äußert er sich deshalb über den revolutionären Flügel der Arbeiterbewegung: „Dass wir heute nicht einmal eine Division gegen die Polen senden können, das haben wir dieser Revolution zu verdanken. Man sieht nichts als Schmutz, Mist, Dünger, Unfug und sonst nichts anderes. Liebknecht gehört ins Irrenhaus und Rosa Luxemburg in den Zoologischen Garten.“ (MWG I/16, 441) Diese Äußerung macht Max Weber am 4. Januar 1919, elf Tage vor deren Ermordung. „Gewiss konnte er nicht vorhersehen, wie rasch diese Revolutionsführer selbst zu Opfern werden würden, und selbstverständlich verurteilte er in der Öffentlichkeit diese Morde; dennoch ist der rüde Ausfall gegen Rosa Luxemburg für heutige Weber-Verehrer die größte Peinlichkeit in seinen politischen Auftritten nach Kriegsende. Wie man sieht, hatte auch er seinen Anteil an der politischen Demagogie zu jener Zeit.“ (Radkau 2005, S. 777).

Kommt Webers Herrenmenschendenken auch in seinen soziologischen Schriften zum Vorschein? In der Weber-Forschung dominiert die Auffassung, dass die Betrachtungen zu „ethnischen Gemeinschaftsbeziehungen“ in Wirtschaft und Gesellschaft (vgl. WuG, S. 234 ff.) den Volks- und Rassenbegriff entschärfen. Weber zeige, „dass jedes ‚Gefühl von Rassenzugehörigkeit’ ein soziales Konstrukt ist und dadurch entsteht, dass bestimmte wahrnehmbare Merkmale zur Grundlage der politischen Vergemeinschaftung gemacht werden“ (Fitzi 2004, S. 203). Eine vielleicht etwas zu wohlwollende Einschätzung: Auf dem ersten deutschen Soziologentag (1910 in Frankfurt) trägt Weber zwar Skeptisches zum Thema Rasse vor, geht aber zugleich davon aus, dass die „soziale Lage der Weißen und Neger in Nordamerika“ auch mit „Erbqualitäten“ zu tun habe. Diese diffuse Haltung zur Rassenideologie macht sich auch in Wirtschaft und Gesellschaft bemerkbar. Etwa, wenn Max Weber über die Bedeutung von „Rassenqualitäten“ und „biologischem Erbgut“ für die Bildung „ethnischen Gemeinschaftsglaubens“ sinniert (vgl. Schöllgen 1998, S. 113 f.).
Das Buch Wirtschaft und Gesellschaft entstand in einem langwierigen und komplikationsreichen Prozess. Schon 1909 hatte Max Weber von Paul Siebeck, einem Verleger mit engen Kontakten zu von Philippovich, einen Auftrag übernommen: In Kooperation mit einer Reihe zeitgenössischer Sozialwissenschaftler das betagte Standardwerk Grundriss der Nationalökonomie zu überarbeiten und unter dem Titel Grundriss der Sozialökonomik neu gestaltet herauszugeben. Etwa zwei Jahre wurden dafür veranschlagt. Der zu Hektik und Nervosität neigende Weber erweist sich allerdings als überforderter Schriftführer und Koordinator. Er entmutigt die Mitarbeiter, indem er sie in häufig schroffer Manier zur Eile mahnt, den abgelieferten Beiträgen dann aber oft mit Desinteresse und Ignoranz begegnet. Davon bleibt selbst der Weber-Freund Eugen von Philippovich nicht verschont. Max Weber ist fixiert auf die Erstellung seines eigenen Artikels und produziert einen voluminösen Text, der den Rahmen eines Sammelbandbeitrags sprengt, unvollendet bleibt und erst posthum (1921/22) als Wirtschaft und Gesellschaft erstmals gedruckt wird. Viele „Weberianer“ betrachten diese Publikation, trotz ihres fragmentarischen Charakters, als einen unübertroffenen Beitrag zu einer universalgeschichtlich und soziologisch fundierten Diagnose der Moderne.

Interessant am Weber’schen Spätwerk ist, dass es sehr direkt die Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit ihres Verfassers widerspiegelt. Hier finden sich neben Statements, die aus einer kolonialismuskritischen Perspektive überaus fragwürdig sind, auch eine Reihe von Beiträgen, die mit beeindruckender Formulierungskunst Mythen, Paradoxien und Gefahren des okzidentalen Kapitalismus aufzeigen und unverkennbar durch die Marx’sche Ökonomiekritik inspiriert sind. Dies ist zweifelsohne ein Grund dafür, dass der überzeugte Anhänger bürgerlicher Wertvorstellungen im Wilhelminischen Bildungsbürgertum auf erhebliche Vorbehalte stößt.

Mit Argwohn wird außerdem beobachtet, dass der späte Weber ein unkonventionelles Gelehrtenverhalten an den Tag legt: Max Weber macht sich, anders als das Gros seiner professoralen Kollegen, für eine von obrigkeitsstaatlichen Reglementierungen befreite Diskussionskultur stark. In seiner Heidelberger Villa verkehren die marxistischen Philosophen Georg Lukács und Ernst Bloch. Der Schriftsteller Ernst Toller, der an der Spitze der Münchner Räterepublik stand, wird von Max Weber 1920 vor Gericht verteidigt. Kennzeichnend für Webers Wissenschaftsverständnis ist außerdem, dass er SPD-Mitgliedern den Zugang zur akademischen Welt erleichtern will und sich vom antisemitischen und männerbündlerischen Klima an den deutschen Hochschulen distanziert. So setzt er sich 1907/08 – aufgrund des Widerstands von Hochschulleitung und Burschenschaften jedoch ohne Erfolg – für die Berufung des jüdischen Sozialwissenschaftlers Georg Simmel auf eine Philosophie-Professur in Heidelberg ein. Einiges spricht daher für die Vermutung, dass Weber sich dem nationalsozialistischen Herrschafts- und Wissenschaftssystem verweigert hätte.

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Literatur

a) Werke von Max Weber

MWG: Max-Weber-Gesamtausgabe. Im Auftrag der Kommission für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. von Horst Baier, M. Rainer Lepsius u.a.. Tübingen 1984 ff: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Abt. I: Schriften und Reden; Abt. II: Briefe.

Zitiert wird aus:

  • Abt. I, Bd. 4: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1892-1899. Hg. Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff. Tübingen 1993:
    • I/4, S. 165-198: Die ländliche Arbeitsverfassung (Referat).
    • I/4, S. 368-462: Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter.
    • I/4, S. 543-574: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Akademische Antrittsrede.
    • I/4, S. 626-640: Diskussionsbeiträge zum Vortrag von Karl Oldenberg: „Über Deutschland als Industriestaat“.
    • I/4, S. 846-852: Der Gang der wirtschaftlichen Entwicklung (Berichte des General-Anzeigers der Stadt Mannheim und Umgebung).
  • Abt.I, Bd. 15: Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914-1918. Hg. Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Gangolf Hübinger. Tübingen 1984: I/15, S. 161-194: Deutschland unter den europäischen Weltmächten.
  • Abt. I, Bd. 16: Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden 1918-1920. Hg. Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Wolfgang Schwentker. Tübingen 1988: I/16, S. 438-441: Deutschlands Vergangenheit und Zukunft (Bericht des Karlsruher Tagblatts).

Außerdem wird Bezug genommen auf: WuG: Wirtschaft und Gesellschaft (1921/22). Hg. von Johannes Winckelmann (5., revidierte Auflage, Studienausgabe). Tübingen 1980: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).

b) Weitere zitierte Literatur

  • Fitzi, Gregor (2004): Max Webers politisches Denken. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
  • Radkau, Joachim (2005): Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. München: Carl Hanser Verlag.
  • Rehmann, Jan (1998): Max Weber: Modernisierung als passive Revolution. Kontextstudien zu Politik, Philosophie und Religion im Übergang zum Fordismus. Hamburg: Argument-Verlag.
  • Schöllgen, Gregor (1998): Max Weber. München: Verlag C.H. Beck.

*Der Autor: Geert Naber ist Sozial- und Gesundheitswissenschaftler und lebt in Oldenburg. Von ihm erschien 2007 das Buch: Die Zukunft der ärztlichen Profession. Eine Erkundung sozial- und gesundheits-wissenschaftlicher Diagnosen, in dem die Soziologie des Max Weber-Schülers Talcot Parsons analysiert wird.

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