China - »Dekolonisierung« einer Kolonievon Mechthild Leutner* |
Bereits im Dezember 1897 hatte Bernhard von Bülow, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, in einer Rede vor dem Deutschen Reichstag die Besetzung Jiaozhous mit der Schaffung einer deutschen »Musterkolonie« verbunden. Damit wurde der aggressive Akt der Besetzung fremden Territoriums vor allem gegenüber Kritikern im eigenen Land wie der Sozialdemokratie heruntergespielt und verharmlost. Begriff und Phänomen der Kolonie wurden durch den Akt der begrifflichen Verbindung von Kolonie und Muster/Vorbild positiv umgewertet (1). Tatsächlich folgen auch die meisten jüngsten Darstellungen noch immer dieser Umwertung (2). Die Auswahl der Themen, die Schwerpunktsetzungen, die Tradierung der eingefahrenen Argumentationsmuster und entsprechender stilistischer Mittel dienen ihnen letztlich dazu, die Idee der »Musterkolonie« weiterhin zu begründen. So wird die deutsche Kolonie de facto ihres Charakters als Kolonie entkleidet. Kategorien von Ausbeutung und Unterdrückung, von Widerstand und Anpassung finden kaum Eingang in aktuelle Darstellungen. Sie werden möglicherweise durch vereinzelte Verwendung des Begriffes »Kolonie« zwar suggeriert, aber die ungleichen und hierarchischen Beziehungen werden nicht konkretisiert. Der gesamte Charakter der Aggression wird heruntergespielt, Deutschland wird eine Sonderrolle zugeschrieben, indem es als weniger expansiv als die anderen, konkurrierenden Mächte dargestellt wird. Indem die Rückständigkeit chinesischer Institutionen als feststehende Tatsache angenommen wird, geraten die genannten deutschen Aktionen zu Maßnahmen der Modernisierung. »Die Chinesen« hätten die als Leistungen der Deutschen hochstilisierten Aktionen honoriert, daraus habe sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Noch in jüngster Zeit heißt es, dass es im Pachtgebiet nicht zu militärischem Widerstand gekommen sei: »Allmählich wuchs das Vertrauen in die deutsche Verwaltung, zumal sie hinreichende Sicherheit vor Räuberbanden gewährleisten konnte, was in anderen Teilen Chinas nicht gelang«. Nach dieser Lesart soll – entgegen eindeutigen Quellenzeugnissen – auch die chinesische Bevölkerung die Präsenz und Aktionen der Deutschen als eine Befreiung aus rückständigen Lebensverhältnissen empfunden haben. Das ist eher die Projektion eigener Wunschvorstellungen als das Ergebnis historischer Quellenanalyse. Am deutlichsten zeigt sich das in den in manchen Darstellungen nahezu völligen Ausblendungen der chinesischen Seite, die dabei zur Marginalie gerät. Die Geschichte der Kolonie wird zu einer deutschen Geschichte auf der chinesischen Bühne. Beispielsweise wird der gesamte Aufbau der sog. deutschen Stadt Tsingtau fast wie eine beliebige Neuplanung einer Stadt in Deutschland geschildert. Die Aufrechterhaltung des Modernisierungsparadigmas in Bezug auf die koloniale Geschichte Deutschlands und die faktische »Neuaneignung« dieser Zeit dient heute einmal der grundsätzlichen Legitimierung des westlichen Weges in die Moderne generell. Zum anderen trägt sie zur historischen Identitätsstiftung bei, und zwar der Stiftung nationaler Identität. Es geht um die positive Absetzung eines spezifischen deutschen Modernisierungsmodells gegenüber den Modellen anderer Länder. Den anderen imperialistischen Mächten wird Gewalttätigkeit und Aggressivität eben nicht generell abgesprochen. Damit wird natürlich gleichzeitig versucht, eine spezifische Traditionslinie der deutsch-chinesischen Beziehungen insgesamt zu begründen, die als für beide Seiten im wesentlichen positiv gesehen wird. Die Tradierung des Bildes oder des Mythos von der »Musterkolonie« – fast drängt sich der Schluss auf, das Problem läge darin, dass die »Musterkolonie« eigentlich nicht lange genug praktiziert wurde – und die damit verbundene »Dekolonisierung« der Kolonialherrschaft soll suggerieren, dass damals wie heute Partner und Modell für Chinas Modernisierungsbestrebungen in Deutschland zu finden sind. Anmerkungen:
*Mechthild Leutner ist Professorin am Ostasiatischen Seminar der FU Berlin. Ihr hier in Auszügen dokumentierter Text ist ausführlich erschienen in: Hermann Hiery und Hans-Martin Hinz (Hg.): Deutsche und Chinesen in Tsingtau 1897-1914. Edition Minerva, Wolfratshausen 1999. Dieser Text ist erschienen in: iz3w Nr. 250 (Januar 2001), S. 42-43
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