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Der erste deutsche Genozid | Zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust
von Jürgen Zimmerer
Die Deutschen tun sich schwer mit dem Kolonialismus. Lange Zeit an Universitäten wie im öffentlichen Bewusstsein allgemein ignoriert und vergessen, wird er seit einigen Jahren zwar erinnert, jedoch meist exotisiert und banalisiert. Hegels bekanntes Diktum, dass Afrika keine Geschichte hätte, wird immer noch von vielen geglaubt, zumindest in der Form, dass, wenn es eine Geschichte hat, diese zumindest keinerlei Bedeutung für unsere eigene besitzt - sei es die europäische, sei es die deutsche. Zwar wurden hie und da Professuren und Lehrstühle für Afrikanische, Asiatische, Lateinamerikanische oder allgemein Außereuropäische Geschichte eingerichtet. Aber nur umso leichter ließ sich an den eigentlichen Lehrstühlen, den nationalgeschichtlich definierten, der Fokus auf die deutsche Geschichte beibehalten.
Dabei gehört der Kolonialismus, das heißt die europäische Ausbreitung über den Globus, zu den weltgeschichtlich entscheidenden Entwicklungen der letzten Jahrtausendhälfte, vergleichbar wohl nur mit der Ausbreitung des Islam. Trotzdem behandeln ihn viele nach wie vor wie ein Randereignis der Geschichte, das man getrost einigen institutionellen Exoten überlassen kann. Die Geschichte des europäischen Kolonialismus - über andere Kolonialismen kann ich heute hier nicht sprechen - ist aber Globalgeschichte und Globalisierungsgeschichte in einem. Globalgeschichte spart keinen Kontinent aus und gesteht keinem a priori eine auserwählte Sonderposition zu. Die Überwindung der wissenschaftlich unfruchtbaren und eurozentrischen Annahme eines Sonderstatus Europas, wie er in der Unterscheidung europäisch-außereuropäisch zum Tragen kommt, ist eines der Ziele meines Ansatzes.
Der europäische Kolonialismus zeigte in seiner über fünfhundertjährigen Geschichte viele Gesichter: Europäer gingen in fremde Gegenden und Erdteile, um zu erobern und zu plündern, um zu missionieren und zu zivilisieren, um zu verwalten und zu entwickeln, um auszubeuten und zu siedeln. Sie kamen als Abenteurer und Glücksritter, als Konquistadoren und Beamte, als Farmer und Handwerker. Sie trafen auf Hochkulturen und in kleinen Familienverbänden lebenden Sammler und Jäger, auf Menschen, die wissensdurstig und neugierig den Kontakt mit ihnen suchten, und solche, die die fremden Eindringlinge von Anfang an ablehnten. Sie lebten, liebten, handelten und verhandelten in Plantagen-, Handels und Siedlungskolonien. Der europäische Kolonialismus zerstörte und baute auf, er brachte Tod mit sich und medizinischen Fortschritt, er versklavte und bildete.
Weder kann der Kolonialismus durch die Aneinanderreihung bestimmter Gräueltaten und Verbrechergestalten vom Range eines Pizarro oder eines Lothar von Trotha zur schwarz-weißen Horrorgeschichte gemacht werden, noch läßt sich der Kolonialismus durch Hinweis auf einige Lichtgestalten oder segensreiche Entwicklungen in eine Heilsgeschichte verwandeln. Und schon gar nicht sollte man den Kolonialismus nur von seinem Ende her bewerten: von den verzweifelten Bemühungen der ehemaligen Kolonialmächte, das Versprechen der zivilisatorischen Mission, mit dem sie ihre außereuropäischen Reichsbildungen gerechtfertigt hatten, kurz vor Toresschluss doch noch einzulösen.
Es stellt sich nun die Frage, was Kolonialismus eigentlich ist. Wolfgang Reinhard hat eine zutreffende Definition gegeben, als er Kolonialismus als "Herrschaftsverhältnis unter Ausnutzung einer Entwicklungsdifferenz" bezeichnete. Zwar würde ich selbst den Begriff der Entwicklung nicht unproblematisiert verwenden wollen, jedoch verliert er keineswegs an Plausibilität, wenn man ihn zum einen technokratisch als administrative und waffentechnologische Überlegenheit betrachtet, und wenn man die Entwicklungsdifferenz als "angenommene" versteht, d.h. der Kolonisator fühlt sich überlegen, und sei es kulturell . Eine weitere, postkolonial geprägte Definition versteht darunter jegliches Herrschaftsverhältnis auf binärer Grundlage. Ganz gleich, welcher man zuneigt, es ist in der modernen Forschung unumstritten, dass Kolonialismus sich nicht auf formale Kolonialherrschaft beschränken läßt.
Globalgeschichte wird seit einigen Jahren unter vielerlei Gesichtspunkten geschrieben. Seltsam vernachlässigt scheint mir dabei die Geschichte der Massengewalt zu sein, insbesondere ‚ethnische Säuberungen' und Genozid. Auf theoretisch anspruchsvollem Niveau wird sie vor allem in und über Australien und Nordamerika geführt. Es ist dieser Kontext, indem auch die Debatte über den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts steht. Betrachtet man jedoch genozidale Ereignisse in Australien, Nordamerika und Südwestafrika, fallen dabei Parallelen und strukturelle Ähnlichkeiten auf, über die nachzudenken es sich lohnt. Der Siedlerkolonialismus, und damit haben wir es in den drei genannten Fällen zu tun, war der Versuch der Kontrolle und bevölkerungspolitischen Neuordnung größerer Territorien nach den Vorgaben einer von außen in die Region gekommenen Bevölkerung. Er basierte zwingend auf einer ethnisch verstandenen Hierarchisierung der Bevölkerung. Motiviert und auch gerechtfertigt wurden sowohl die Invasion als auch die Besetzung fremder Kontinente durch die Einteilung der Menschen in höhere, zum Herrschen bestimmte, und niedere, ihnen unterworfene Rassen. Ob unverhohlener Raub, oder Rechtfertigung als Zivilisationsmission, kaum irgendwo findet sich eine Akzeptanz des indigenen Gegenübers als Gleichem, fast überall findet sich dagegen eine Zurücksetzung. Anders als mit essentieller Ungleichheit ließen sich der gigantische Landraub und die Ausbeutung, die mit dem Kolonialismus verbunden waren, auch gar nicht rechtfertigen. Am untersten Ende der Rangstufe imaginierte man nur allzu oft Gruppen, die angeblich dem Untergang geweiht waren. Hier nachzuhelfen erschien eher als weltgeschichtlicher Auftrag, denn als der brutale Massenraubmord, der es eigentlich war.
Im Siedlerkolonialismus kommt es deshalb besonders häufig zu genozidaler Gewalt: "Genocide has two phases: one, destruction of the national pattern of the oppressed group: the other, the imposition of the national pattern of the oppressor. This imposition, in turn, may be made upon the oppressed population which is allowed to remain, or upon the territory alone, after removal of the population and the colonization of the area by the oppressor's own nationals." Das genau ist Siedlerkolonialismus: das Vorgefundene wird unterdrückt oder sogar beseitigt, und dann durch Neues ersetzt.
Die Frage, ob der Begriff des Genozids überhaupt auf den Kolonialismus anzuwenden sei, scheint sich mir dadurch zu erübrigen. Genozid ist kolonial. Das belegt auch die oben genannte Definition, die von keinem geringeren als Raphael Lemkin stammt, dem polnisch-jüdischen Juristen und Urheber des Völkermordkonzepts. Das Zitat stammt aus seiner grundlegenden Analyse der NS-Besatzungspolitik in Osteuropa, "Axis Rule in Occupied Europe". Damit dürfte sich auch die Frage, ob man das Konzept Genozid zugleich auf den Kolonialismus und die nationalsozialistischen Verbrechen anwenden könne, erledigt haben: Das Konzept war von Lemkin ausdrücklich mit Blick auf beide Phänomene entwickelt worden. Er selbst schrieb in seiner Geschichte des Völkermords auch über die Herero.
Welche Rolle spielt nun aber der deutsche Kolonialkrieg in Namibia in dieser Globalgeschichte des Völkermordes? Es ist banal, festzustellen, dass koloniale Völkermorde nicht gleichgesetzt werden könnten mit den nationalsozialistischen. Dazu sind sie in der Form ihrer Ausführung und in der Auswahl ihrer Opfer wahrlich zu unterschiedlich. Überhaupt lassen sich keine zwei historischen Ereignisse gleichsetzen. Vergleichen muß man historische Ereignisse jedoch, da man ohne die logische Operation des Vergleichs auch das jeweils Spezifische nicht feststellen kann. Die Vergleichende Genozidforschung macht genau dies. Kritik über die angeblich damit verbundene Gleichsetzung ist deshalb polemisch und ideologisch, weder wissenschaftlich noch intellektuell redlich. Wir brauchen nicht weiter darauf eingehen.
Wenn man nun das nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungsprogramm als zutiefst kolonial begreift, basierend auf ähnlichen Konzepten von Rasse und Raum, dann stellt sich die Frage, wie man historisch die offensichtlichen Unterschiede bewältigen kann, ohne die Verbindungslinien zu verwischen. Ich habe an anderer Stelle (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51:12 (2003), S. 1098-1119) von einer Genealogie des genozidalen Gedankens gesprochen, die man über den Siedlerkolonialismus bis zum Nationalsozialismus verfolgen könne. Die Suche nach Siedlungsland in Amerika, Australien und Afrika ist dabei funktionsäquivalent zum Lebensraum im Osten Europas während des Dritten Reiches. Hinsichtlich der Formen und Praktiken der Gewalt lässt sich eine immer großflächigere und bürokratisiertere Anwendung von Gewalt beobachten, abhängig vom historischen Entwicklungsstand des (europäischen) Staates.
Dies ist eine historische Entwicklung, ein Verweis auf Ursprünge und Vorläufer, eine Genealogie eben, nicht aber die Begründung einer Kausalität oder einer monolinearen Kontinuität mit dem Charakter der historischen Unvermeidlichkeit. Innerhalb dieser Genealogie kommt dem Krieg gegen die Herero und Nama eine herausgehobene Bedeutung zu, da wir es mit einem kolonialen Pazifizierungskrieg zu tun haben, einer vierjährigen koordinierten Aktion, einem veritablen Krieg. Zudem kombinierte dieser Krieg das genozidale Massaker, die ‚ethnische Säuberung' und die Vernichtung durch Vernachlässigung in Lagern - ebenfalls Phänomene, auf die wir während des Zweiten Weltkriegs wieder treffen. Im ersten deutschen Genozid tritt das historische Phänomen des Völkermords erstmals in die deutsche Geschichte ein. Und dieser Völkermord wird nicht vertuscht, er ist extrem populär. Gustav Frenssens Abenteuerbuch "Peter Moors Fahrt nach Südwest" ist das erfolgreichste Jugendbuch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Darin wird der Völkermord offen mit der fehlenden "Kulturleistung" der Herero begründet. Keine Brunnen gebohrt und keine Häuser gebaut hätten sie und deshalb den Untergang verdient.
Exterminatorische Rhetorik hat es schon immer gegeben, im Falle der Herero und Nama wurde sie jedoch auch in die Praxis umgesetzt. Wenn man davon ausgeht, dass der Tabubruch darin besteht, nicht nur von Vernichtung zu reden, sondern sie in Lagern und Massakern auch umzusetzen, dann wurde er in den Kolonien begangen. Deutsch-Südwestafrika scheint mir das Verbindungsglied zu sein zwischen der kolonialen Gewalt- und Vernichtungsgeschichte und der deutschen Geschichte und letztendlich dem Nationalsozialismus. Es ist aber über die Mordpolitik hinaus auch bedeutsam als Schauplatz des ersten deutschen Experiments mit dem Rassenstaat. Beides ist Ausdruck eines radikalen Kolonialismus und Beleg dafür, dass Deutschland in dieser Hinsicht den Anschluss an den europäischen Kolonialismus geschafft hatte. Die Radikalität begründet sich zum nicht geringen Teil gerade aus dem Versuch, aufzuholen, es ‚besser' zu machen als die anderen. In diesem Sinne war die nationalsozialistische Besatzungs- und Ausbeutungsplanung ein zweiter Versuch.
Diese These wird immer wieder mit dem Hinweis diffamiert, dass andere europäische Staaten noch drastischere Erfahrungen mit dem Kolonialismus gemacht hätten, es dort aber keine vergleichbaren Verbrechen wie die des Dritten Reiches gegeben habe. Dies verwechselt zum einen Kontinuität mit Kausalität. Zum anderen übersieht es die wichtige Unterscheidung, die zu machen ist zwischen der Frage, warum und wie es in Deutschland zur Machtübernahme der Nationalsozialisten kommen konnte, und der Frage, wie die Verbrechen umgesetzt wurden und wieso sie auf so weitgehende Zustimmung trafen. Der postkoloniale Ansatz erklärt nicht - und will es auch gar nicht -, warum die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, sondern fragt nach den Vorbildern und Anregungen, auf die sie zurückgreifen konnten, nachdem die Entscheidung für einen neuen Versuch mit Kolonialismus gefallen war.
Vor allem aber bettet der postkoloniale Ansatz die nationalsozialistischen Verbrechen ein in die Geschichte des Kolonialismus und des Genozids. Er versteht sie als - sicherlich extrem radikalisierte Ausprägung - eines weltgeschichtlichen Phänomens, nämlich des Siedlungskolonialismus und des ihm inhärenten Gewaltpotentials. Letzteres ist globalgeschichtlich nicht zu verstehen, wenn man seine radikalste Ausprägung aus der Untersuchung ausklammert. Gleichermaßen läßt sich eine Globalgeschichte des Genozids nicht schreiben ohne Rekurs sowohl auf die traditionell als kolonial betrachteten Völkermorde als auch auf die nationalsozialistischen. Ruanda hat gezeigt, dass sich auch nach dem Holocaust Völkermorde ereignen können, die Elemente von beiden enthalten.
Jürgen Zimmerer ist Direktor des Centre for the Study of Genocide and Mass Violence, University of Sheffield.
Übersicht zur Debatte: iz3w-Vorwort Zum Text
Philip Geck und Anton Rühling: Vorläufer des Holocaust? Die Debatte um die (Dis-)Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308) Zum Text
Jörg Später: Gegenläufige Erinnerungen. Historizität und politischer Kontext der Debatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308) Zum Text
Jürgen Zimmerer: Der erste deutsche Genozid. Zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust (Vortragsmanuskript) Zum Text
Birthe Kundrus: Entscheidende Unterschiede. Für die Frage nach den Verbindungen zwischen Kolonialismus und NS ist der Genozid-Begriff wenig hilfreich (Vortragsmanuskript) Zum Text
Podiumsdiskussion (Transkription) Zum Text
Seminar (Transkription) Zum Text
Heiko Wegmann: Kokospalme mit Hakenkreuz -
Die Kolonialbewegung in Freiburg während des Nationalsozialismus (pdf, aus iz3w 313) Zum Text
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