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SEMINAR am 8.2.2008 in Freiburg i. Br. im Anschluß an die Podiumsdiskussion vom 7.2.2008 (siehe auch iz3w-Vorwort Zum Text)
Jörg Später (Moderation):
Meine erste Frage an Herrn Zimmerer lautet: Wozu vergleichen wir historische Ereignisse? Wem dient das? Die Opfer aller Länder und aller Zeiten arbeiten sich beständig an diesem Thema ab, um auf das eigene Leid hinzuweisen und Anerkennung einzufordern. Das scheint mir der Subtext dieser ganzen Debatte und des Vergleichs zu sein, so wie das Ablehnen eines Vergleiches dazu dient, die Singularität des Holocausts zu betonen. Aus einer wissenschaftlichen Perspektive haben Sie, Herr Zimmerer, versucht, Antworten zu geben, wozu ein Vergleich vielleicht dienen kann. Aber ich möchte die Frage noch einmal grundsätzlich aufwerfen: Wozu vergleichen?
Meine zweite Frage bezieht sich auf die Verwendung des Genozidbegriffes, der ja den Vergleich scheinbar schon impliziert. Denn an der Judenvernichtung ist der Begriff ja entwickelt worden, und wer ihn verwendet, bezieht sich indirekt auf die Shoah. Wozu brauchen wir den Genozidbegriff?
Jürgen Zimmerer:
Ein Umstand wurde in der Podiumsdiskussion gestern vielleicht nicht deutlich: Es gibt verschiedene Arten, auf Gewalt zu blicken. Man kann ein Forschungsinteresse am Dritten Reich oder am Hererokrieg haben, oder an Australien, Armenien, Ruanda. Die Verwendung des Holocaust als Ausgangspunkt der Untersuchung stellt für mich bereits schon eine spezifisch eurozentrische oder deutsche Verengung dar. Das Forschungsinteresse kann sich doch auch auf vorher oder danach geschehene Massengewalt richten.
Wichtig für das Verständnis heutiger Fälle wie Ruanda oder Darfur ist in der Genozid- oder Gewaltforschung die Suche nach ähnlichen Fällen oder Gründen für die Entstehung solcher Massengewalt. Deshalb erscheint es mir nützlicher, das offen zu thematisieren und deutlich herauszustellen, wo die Gemeinsamkeiten sind und die Unterschiede. Denn Genozidforschung ist ja nicht auf Geschichtswissenschaft beschränkt. Es wird versucht, Massengewalt in der Geschichte als Phänomen zu verstehen, Ursachen aufzudecken und auch zu klären, wie man heute damit umgeht - das ist ein Aspekt, der in der Diskussion immer zu kurz kommt.
Wie gehen Opfer von Massengewalt mit ihrer Erfahrung um? Gibt es Lernprozesse, Hilfsprozesse, die man aus dem Umgang einer Gruppe mit einer ähnlichen Erfahrung für die Anderen lernen kann? Für die Herero wurde der Versuch kaum unternommen, aber zum Holocaust gibt es eine sehr breite Forschung über Überlebende und deren Probleme - sowohl aus der Täter- als auch aus der Opferperspektive. Und vielleicht kann das den Herero tatsächlich eine Hilfestellung sein beim Versuch, zu verstehen, was der eigenen Gruppe widerfahren ist.
Betrachtet man die Genozidforschung, dann ist der Holocaust der mit Abstand am besten untersuchte Fall. Wir wissen über keinen anderen Fall von Massengewalt so viel wie über den Holocaust. Deshalb ist er auch so wichtig für die Beschäftigung mit dem Thema, weil man theoretische und methodische Anregungen gewinnen kann.
Birthe Kundrus:
Grundsätzlich würde ich zustimmen, dass der Vergleich in der Wissenschaft ein heuristisches Verfahren ist. Durch ihn kann man Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausfinden und Spezifika feststellen. Eben das wird uns ermöglicht, wenn wir Kolonialismus und Nationalsozialismus als zwei Herrschaftssysteme gegenüberstellen. Vielleicht schärft das unseren Blick. In der Diskussion gestern haben wir besonderen Wert auf den Aspekt der Kriegsführung gelegt, aber man kann das sicherlich noch auf andere Formen von Herrschaft erweitern.
Um den Vergleich als solchen kommen wir gar nicht herum, im Gegenteil. Ich finde ihn äußerst sinnvoll und notwendig, weil wir - genau wie Herr Zimmerer sagte - auch etwas über die Genese und die Dynamiken solcher exzessiver kollektiver oder staatlicher Gewalt herausfinden wollen.
Nun gibt es natürlich - und das ist die politische Implikation solcher Forschung - Schlussfolgerungen für eine politische Praxis, solche Ereignisse zu verhindern. Welche Möglichkeiten der Einhegung von entgrenzter Gewalt gibt es? Ob wir dazu als Historiker, Soziologen, Anthropologen oder Literaturwissenschaftler tatsächlich etwas beisteuern können, eine unmittelbare Anwendbarkeit in Bezug auf die Prävention solcher Ereignisse herstellen können, wage ich zu bezweifeln. Das ist jedoch die Frage nach der politischen Dimension. Für den wissenschaftlichen Bereich aber erscheint es mir unabdingbar, solche Vergleiche zu unternehmen.
Die gute Erforschung des Holocausts ist einer jahrzehntelangen wissenschaftlichen Befassung damit geschuldet, die allerdings die Bundesrepublik erst relativ spät erfasst hat. Durch die Größenordnung der Shoah - und trotz aller Bemühungen, Quellen zu vernichten - ist es außerdem gelungen, erstaunlich viele Quellen zu retten. Wir haben also einen reichen Quellenkorpus zum Nationalsozialismus. Einerseits ist damit großartige Arbeit geleistet worden, deren Erkenntnisse man jetzt nutzt. Andererseits wird dieses unheimlich vielfältige und verästelte Wissen jetzt zum Problem der Forschung, da sie sich allzu sehr an Detailfragen abarbeitet.
Alle vergleichende Gewaltforschung nimmt sich also den Holocaust zum Vorbild. Das hat auch seine Berechtigung, mitunter führt es aber in die Irre, wenn man ein Modell entwickelt, und dieses auf andere Länder, Zeiten und Kontinente überträgt. Das Problem ist: Wie verallgemeinerbar ist ein solches Modell für andere Gewaltabläufe derartiger Dimension?
Jörg Später:
Es hat sechzig Jahre bis zum Erscheinen der ersten Monographie gedauert, die eine Opferperspektive entwickelt. Saul Friedländers Buch ist also insofern ein Novum, dass es erstmals versucht, das ganze Geschehen aus der Opferperspektive darzustellen. Bis jetzt war NS-Forschung meistens Täterforschung.
Birthe Kundrus:
Saul Friedländers Buch ist innovativ, da es Täter- und Opferperspektive zusammenzuführen versucht. Dan Diner hat das als eine zwischen Tätern und Opfern "widerstreitende Geschichte" definiert.
Jörg Später:
Die Opferperspektive gibt es im Falle der Herero und Nama jedoch nicht in gleichem Maße. Es gibt wohl keine Monographie, die emphatisch das Geschehen aus dieser Perspektive zu schildern versucht. Das wirft für mich das Problem der Opferkonkurrenz auf. Der ganze Vergleichsstreit läuft wie ein Wettbewerb ab, der immer wieder am Holocaust abgearbeitet wird. Pauschal gesagt, sind Afrikahistoriker eher zugeneigt, solche strukturellen Ähnlichkeiten oder Affinitäten festzustellen, während NS-Forscher diese meist konsequent ablehnen. Das ist kein Zufall, das hat etwas mit Wissenstradition zu tun. Mit dem Gegenstand, mit dem man quasi "verheiratet" ist, und mit der Konkurrenz der Opfer.
Auch die "gegenläufige Erinnerung" stellt ein Problem dar. Dan Diner hat das einmal schlüssig am Datum des 8. Mai festgemacht. Dieser ist - zumindest in Westeuropa - als Tag der Befreiung in das kollektive Gedächtnis eingegangen. An einem 8. Mai fanden aber auch in Algerien in mehreren Städten große Demonstrationen der nationalen Unabhängigkeitsbewegung statt. Gefordert wurde die Entlassung Algeriens in die Unabhängigkeit, nachdem man sich auf Seiten der Franzosen im Zweiten Weltkrieg engagiert hatte. Diese Demonstrationen wurden brutal niedergeschlagen, es gab Zehntausende von Toten in drei Orten, und es stellte sich heraus, dass die "Befreier", die Sieger des Zweiten Weltkrieges, zu dessen Versinnbildlichung und "Ikone" sich dann die Shoah entwickelte, weiterhin koloniale Unterdrücker blieben.
Es bildete sich also etwas wie ein antikoloniales Gedächtnis, eine antikoloniale Erfahrung des Zweiten Weltkrieges heraus und gleichzeitig im Widerstreit dazu das Auschwitz-Gedächtnis. Hieraus entstand ein Konkurrenzverhältnis, was sich zusätzlich durch den Nahostkonflikt verkomplizierte. Die Entstehung von Israel kann man als partikularistische Antwort auf die Erfahrung der Shoah interpretieren, die jedoch im antikolonialen Gedächtnis als Entstehung eines kolonialen Erobererstaates wahrgenommen wurde. Dieser wurde ja durch die berühmte UN-Deklaration als "rassistisch" gebrandmarkt (man kennt ja noch die Formel "Zionismus = Rassismus"), so dass ein antirassistisch-antikoloniales Gedächtnis in Konkurrenz zu einem anti-antisemitischen Gedächtnis steht. Die Debatte hat also einen doppelten Boden, und sie ist politisch kontaminiert.
Lydia Ehler:
Die Täterperspektive der Geschichtsschreibung kommt ja zu ganz dubiosen Kontinuitäten wie zum Beispiel die Sonderwegsthese, während die Opferperspektive viel mehr das Situative in den Vordergrund stellt, wie auch Dan Diner sagte.
Somit scheint es, als wäre die Feststellung von Kontinuitäten von der Opferperspektive aus gesehen nicht sinnvoll, wenn wir den Opfern zuhören, die ja immer wieder feststellen wollen, dass das erlebte genozidale Geschehen einen Bruch darstellt. Andererseits muss man festhalten, dass es nur dort Brüche gibt, wo es auch Kontinuitäten gibt. Es stellt sich nun also die Frage, welche Kontinuität - nicht welcher Transfer- sinnvoll zu konstituieren ist, wenn doch gleichzeitig jede Kontinuität einen subjektiven Charakter hat.
Deshalb frage ich mich, ob man nicht gerade die Erfahrungswelt der Opfer mit hinzuziehen sollte. Diese haben etwas erlebt, was sich jedem rationalen Verständnis entzieht. Das betonen die Opfer - gerade die Holocaustopfer - ja immer wieder. Die Opfererfahrung straft also jede Kontinuitätsthese Lüge, die sich an strukturelle Kontinuitäten hält. Meine Frage ist, warum die Geschichtsschreibung die Opfererfahrung nicht ernst nimmt, obwohl diese einen erhellenden Blick auf das Geschehnis als Solches geben könnte.
Birthe Kundrus:
Ich kann diese Vernachlässigung der Opferperspektive in der NS-Forschung nicht ausmachen. Die Literatur zu Konzentrationslagern beispielsweise stützt sich sehr stark auf die Erfahrungen der ehemaligen Insassen, mit Hilfe von "oral history", Befragungen und autobiographischen Zeugnissen - nehmen sie Primo Levi oder andere. Sie sind in hohem Maße für die Darstellung der schrecklichen Lebensbedingungen in den Konzentrationslagern herangezogen worden.
Jörg Später:
Gerade wenn man die Lagerliteratur betrachtet, kann man sehen, wie heterogen diese Erfahrung ist, dass man also eine Vielzahl von Stimmen hat. Nehmen sie Primo Levi, der das Entmenschlichte in den Vordergrund stellt, nehmen sie einen Roman von Imre Kertész, der genau gegenteilige Lagererfahrungen hat, nehmen sie Ruth Klüger, die nochmal eine andere Lagererfahrung hat. Das sind subjektive Stimmen. Man kann also keine Aussagen fällen wie: "So ist das Lager. Das Lager hat diese und jene Erfahrungen, Folgen, Traumata zur Folge".
Jürgen Zimmerer:
Wir sollten uns darauf einigen: Alle Genozidopfer machen eine Erfahrung, die nicht rational ‚aufgearbeitet' werden kann. Eigentlich müssten wir sogar sagen: Alle Opfer von Gewalt machen diese Erfahrung. Wenn man das auf alle Genozidopfer beschränkt, brauchen wir bereits eine Definition, was Genozid ist. Dem kann man dem zustimmen oder man kann es ablehnen, aber was bringt uns das?
Sie, Herr Später, wollen ja schon auf eine bestimmte Art von Gewalt hinaus. Das bringt uns direkt in die Debatte, was ein Genozid eigentlich ist. Welche Opfer des Dritten Reiches sind Opfer des Genozids? Gibt es andere Opfer von Genoziden? Gibt es Genozide außerhalb der Geschichte des Dritten Reiches?
Es stimmt nicht, dass es die Opferperspektive in der Kolonialismusforschung nicht gäbe. Ich behaupte sogar, zwischen Ende der 1960er Jahre und Anfang 2001/2002 war die Opferperspektive dominierend, der Versuch, an die Erfahrung der Opfer heranzukommen. Die Täterforschung ist in diesem Fall eher wieder etwas Neues. Ein anderes Problem ist: Wer betreibt die Opferforschung im Falle des Kolonialismus? Das machen natürlich Europäer oder Nordamerikaner. Es ist unmittelbar mit dem Kolonialismus als Phänomen verbunden, dass es kaum oder vergleichsweise wenige Herero- oder Nama-Historiker, -Soziologen und -Politologen gibt. Aber es gibt Herero- und Nama-Geschichtsschreibung. Wir sind vielleicht nicht zu einem Ergebnis gekommen, das uns alle befriedigt. Aber dass die Suche nach der Synthese von Täter- und Opfergeschichtsschreibung nicht unternommen worden wäre, das halte ich so nicht für korrekt.
Es ist eher ein Problem, dass wir hier in Freiburg, in Deutschland als Historiker die Literatur, die über Herero und Nama geschrieben wurde, einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Dass ein gestandener Deutschlandhistoriker sich eher die Hand abhackt, als das Journal of African History aufzumachen.
Birthe Kundrus:
Das ist der Unterschied. Wir sind vielleicht nicht zu einem Ergebnis gekommen: Was hat die Herero angetrieben, warum haben sie sich am Waterberg versammelt? Aber der Versuch ist unternommen worden. Ich höre bei Ihnen [zur Studentin] eine unbedingte Parteilichkeit für die Opfer heraus. Das führt uns jedoch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht weiter.
Zweitens: Was wollen Sie aussagen, außer dass es viele Erfahrungen von Opfern kollektiver entgrenzter Gewalt gibt, und nicht nur die eine Erfahrung der "Sinnsuche"? Diese Sinnsuche ist vielleicht schon etwas, was Opfer von Gewalt eint: "Warum ich?" Das gilt sowohl für individuelle als auch für kollektive Gewaltereignisse: "Warum wurde ich vergewaltigt, überfallen, ausgeraubt, entführt? Warum musste ich ins KZ?" Das ist eine Frage, die sich alle Opfer irgendwann stellen. Aber die Antworten darauf fallen sehr unterschiedlich aus.
Christian Stock:
Es war hier schon von Opferkonkurrenz die Rede, und ich wollte nochmals unterstreichen was Jörg Später darüber gesagt hat. Das lässt sich an einem Beispiel erläutern: es gibt ein Buch von Rosa Amelia Plumelle-Uribe, "Die weiße Barbarei". Plumelle-Uribe ist Afro-Kolumbianerin und arbeitetet als Wissenschaftlerin in Paris. Der erste Teil ihres Buches ist sehr berechtigt, denn es wird nachgewiesen, dass die Geschichtswissenschaft und die Öffentlichkeit sich viel zu wenig mit den Kolonialverbrechen der Weißen an den Schwarzen, wie sie das bezeichnet, auseinandergesetzt haben.
Den zweiten Teil des Buches finde ich sehr ärgerlich, denn da versucht sie nachzuweisen, dass die Juden nach der Shoah nur deshalb bevorzugt als Opfer behandelt wurden, weil sie Weiße waren. Dass sie großzügige Entschädigungen erhalten haben - was so überhaupt nicht stimmt. Sie seien also im Vergleich zu den Schwarzen eine bevorzugte Opfergruppe gewesen. Das Buch mündet dann in eine wüste Anklage gegen Israel als Apartheidstaat, als kolonialer Unterdrücker der Neuzeit etc. Das sei nur als abschreckendes Beispiel dafür angeführt, wozu eine Opferkonkurrenz führen kann. Es wird dabei politisch instrumentalisiert, und es geht hier nicht nur um innerwissenschaftliche Auseinandersetzungen. Auch innerhalb der Wissenschaften wird Politik betrieben.
Ein anderer Aspekt - und das kam bisher zu kurz - ist die Frage, was denn die ideologischen Hintergründe für die Kolonialverbrechen einerseits und die Shoah andererseits sind? Der Kolonialrassismus auf der einen Seite und der Vernichtungsantisemitismus auf der anderen Seite - beim Russlandfeldzug auch Antibolschewismus und Antikommunismus - unterscheiden sich als ideologische Motivlagen doch erheblich voneinander. Deswegen würde ich auch bei der Genealogie, die Herr Zimmerer herauszuarbeiten versucht, doch sehr stark auf die Brüche und Diskontinuitäten verweisen wollen.
Viele Kolonialhistoriker und antirassistische Theoretiker behandeln den Antisemitismus, als sei er ein Unterfall von Rassismus. Es sei einfach nur eine bestimmte Gruppe, die Juden, die von rassistischer Unterdrückung betroffen seien. Das stimmt aber nicht. Der Kolonialrassismus sah in den "Schwarzen und Negern" zunächst minderbemittelte Menschen, denen geholfen werden musste, das waren "Kinder, die man erziehen muss". Erst mit dem Hererokrieg kippte das in Deutschland, man nahm sie nun auch als Feind wahr, oder als ungehorsam gewordene, pubertierende Kinder, die man mit harter Hand züchtigen muss. Es stand dabei aber immer eine absolute Überlegenheit gegenüber der "minderen schwarzen Rasse" im Vordergrund.
Beim Antisemitismus ist das anders. Die Juden wurden als perfide, als verschlagen, als Unterdrücker, als Verschwörer gehandelt. Sie wurden haftbar gemacht für das, was man die "Verwerfungen der Moderne" nennt. Man hat sie als überlegen und daher gefährlich angesehen. Und deshalb mussten sie laut NS-Ideologie vernichtet werden, weil sie eine große Gefahr für das "deutsche Volk", aber auch für die ganze Welt darstellten.
Das sind ganz andere Perspektiven, und deshalb finde ich, dass die Rede "Von Windhuk nach Auschwitz" den Kern des Problems nicht trifft. Wenn, dann ließe sich noch am ehesten sagen "Von Windhuk nach Stalingrad", denn im Osten gab es wirklich koloniale Eroberungszüge. Aber auch hier ist die antibolschewistische Ideologie etwas völlig Anderes gewesen als der Kolonialrassismus.
Lydia Ehler:
Ich würde gerne noch einmal darauf hinweisen, dass es sinnvoll ist, die Erlebniswelt und die Erfahrung in den Vordergrund zu stellen, und dass gerade auch jetzt, wo bald eine Geschichtsschreibung, wie Friedländer sie unternimmt, nicht mehr möglich ist, diese fortgeführt werden sollte. Es sollte weiterhin versucht werden, sich diese Erfahrung anzueignen. Vielleicht funktioniert das über eine Identifikation. Dan Diner schlägt vor, dass man sich die Rolle des Judenrates verinnerlicht, wo Täter- und Opferperspektiven in Eins fallen.
Jürgen Zimmerer:
Sie, Herr Stock, haben das Beispiel von Frau Plumelle-Uribe angeführt. Dazu muss ich sagen: Sie sieht sich als "survivor", als Teil einer Opfergruppe. Sie hat das Recht, zu sagen, was immer sie möchte. Das ist ihr individueller Umgang mit ihrem Leid. Gleichzeitig sagen alle, die ihr Buch gelesen haben: Es ist unsäglich. Es nimmt niemand ernst, und es entbehrt jeglicher Grundlage. Aber wir können es akzeptieren, da es ihr gutes Recht ist, mit ihren traumatischen Erfahrungen umzugehen, wie sie will. Dieses Buch ist de facto eher Literatur als Forschung.
Was mich an dieser uralten Debatte stört, welche Perspektive man einnehmen darf, ist: warum muss man sich denn entscheiden, welche zulässig ist und welche nicht? Warum sind nicht, je nach Erkenntnisinteresse, je nachdem, wer man ist und was man herausfinden möchte, verschiedene Perspektiven legitim? Das ist eine Frage, die sie mir beantworten müssten.
Reinhart Kößler:
Vielleicht muss man wirklich, um Erfahrungen zu transportieren, Gedichte oder Musik schreiben oder Bilder malen. Das kann durchaus die unmittelbarere Form sein, sich Anderen verständlich zu machen. Es geht ja darum, das nicht Kommunizierbare irgendwie kommunizierbar zu machen. Doch was kann die Wissenschaft in Kenntnis ihrer Grenzen dennoch tun? Sie kann Literatur, Kunst oder Musik als Quelle oder Material nehmen, das sie analysiert und mit ihren Begriffen zu verstehen versucht. Und sie kann Zeugnisse von Opfern aufarbeiten. Sie kann - soweit möglich - tiefenbiographische Interviews machen.
Das sind Möglichkeiten, die durchaus wahrgenommen werden, und das gilt auch für den herero-deutschen Krieg. Da ist die Quellenlage nicht so reichhaltig wie im Falle des Holocaust, aber es gibt durchaus einige Beiträge. Es gibt beispielsweise einen Aufsatz, der Lieder von Herero in Botswana über ihre Flucht thematisiert. Das sind erschütternde Dokumente. Aber man muss sich gleichzeitig im Klaren darüber sein, dass die Wissenschaft irgendwann ihre Grenze erreicht.
Lydia Ehler:
Ich habe nicht gemeint, dass eine Perspektive wertvoller sei als die andere. Ich glaube nicht, dass es überhaupt möglich ist, eine Wissenschaft nicht aus einer bestimmten Perspektive zu betreiben. Ich halte es aber im Hinblick auf eine kosmopolitische Identität für sinnvoll, dass die Täter- und Opferperspektive in Eins fällt.
Jürgen Zimmerer:
Das sind theoretische Forderungen, die man gut aufstellen kann. In der Praxis hat man ein Problem. Darf denn ein Europäer, ein Weißer die Opferperspektive einnehmen? Es gibt dann von afrikanischer Seite den Vorwurf, wie man sich als Europäer erdreisten könnte, zu glauben, man könnte diese Erfahrungen schildern. Kann ich also als Täter nur Täterperspektive schreiben, als Opfer nur Opferperspektive? Wessen Geschichte ist es eigentlich, gibt es einen privilegierten Zugang zur Wahrheit? Weil man selbst von einer bestimmten Hautfarbe ist? Das sind Probleme, die in der täglichen Forschungstätigkeit auftauchen, und die sehr schwierig zu umgehen sind.
Zur Etablierung eines Wettbewerbs der Opfer: Das ist ja der latente Vorwurf an die Wissenschaft, die vergleichende Genozidforschung betreibt. Er ist aber nicht fair, da er nicht durch die Sache gestützt wird. Denn die meisten Wissenschaftler, die dazu arbeiten, verwahren sich dagegen und betonen, dass es nicht um einen Wettbewerb der Opfer geht. Der Wettbewerb entsteht erst dann, wenn die Opfer darüber reden. Wie geht man mit dieser "Opferperspektive" um? Wie geht man damit um, wenn ein Herero sagt: "Die Ermordung meiner Großmutter im Konzentrationslager Haifischinsel empfinde ich als genauso schlimm wie die Ermordung einer jüdischen Großmutter in Dachau oder Auschwitz."
Wir müssen uns also darauf beziehen, was die Wissenschaft machen kann. Und die etabliert keinen Wettbewerb der Opfer, wenn sie sagt, dass es Fälle von Massengewalt gibt, die genug strukturelle Ähnlichkeit aufweisen, dass man sie in eine Typologie von Gewalt überführen und darauf untersuchen kann: Woher kommt diese Gewalt, wie kommt man aus dieser Gewalt wieder heraus? Denn diese Art von Gewalt wiederholt sich ja. Es ist ja nicht so, dass genozidale Gewalt nur ein historisches Phänomen ist. Sie geschieht in diesem Moment in Darfur, während wir hier theoretisieren.
Christian Stock:
Was das Recht der Opfer betrifft, sich frei dazu äußern zu können, stimme ich Ihnen völlig zu. Ich wünschte, Sie hätten auch Recht, was die Wissenschaft betrifft. Aber Sie entwerfen ein Wunschbild von der Wissenschaft. Ulrich Herbert hat das gestern schon angedeutet: Es gibt im totalitarismustheoretisch argumentierenden Sektor der Genozidforschung sehr wohl ein Aufrechnen. Dieser Vorwurf ist nicht an Sie gerichtet, aber es findet längst statt, etwa beim Hannah-Arendt-Institut in Dresden.
Birthe Kundrus:
Das ist wieder die Diskussion um den Genozidbegriff. Das Problem ist, dass dieser Begriff unheimlich viel leisten soll. Er hat eine wissenschaftliche, eine politische, eine rechtliche Funktion. Das ist eine Überforderung. Er legt politisch nahe, es gäbe eine Hierarchie der Opfer. Genozid ist sozusagen "the crime of all crimes". Das ist eine politische Instrumentalisierung oder Benutzung des Begriffes, und das ist ein Problem. Damit müssen wir als Wissenschaftler umgehen.
Deshalb würde ich dafür plädieren, sich vom Genozidbegriff zu lösen und die Ereignisse anzuschauen. Wir kommen so zumindest um die Einordnung herum: "Dieser Fall ist ein Genozid, dieser nicht." Wir wären bei Ereignissen von massenhaft entgrenzter Gewalt nicht sofort in diesen Genoziddiskurs verwickelt, der politisch, rechtlich, normativ und empirisch aufgeladen ist. Ich empfände das als Befreiung.
Jürgen Zimmerer:
Der Genozidbegriff ist aber schon ein rationalisierter und ent-emotionalisierter Begriff. Wenn wir ihn aufgeben, gewinnen wir gar nichts. Wir können postulieren, dass Wissenschaft von jeglicher Politik losgelöst ist. Wenn man aber - und dazu bekenne ich mich offen - der Meinung ist, dass man als Wissenschaftler eine politische und moralische Verantwortung hat, wenn man die Politik kritisch begleiten soll, dann müssen wir den Genozidbegriff in diese Debatten führen und versuchen, ihn zu versachlichen. Denn außerhalb des Elfenbeinturms wird das Konzept benutzt, und mit ihm wird Politik gemacht. Übrigens von beiden Seiten. Es sind ja nicht nur die Nicht-Holocaust-Opfer, die den Begriff instrumentalisieren.
Jörg Später:
Deswegen ist es ja auch kein Vorwurf, diese Opferkonkurrenz festzustellen, sondern der Appell, zu reflektieren, was der doppelte Boden der Debatte ist. Man kann nicht, wie Martin Broszat das immer getan hat, vom Pathos der Nüchternheit, von der objektiven Zeitgeschichte sprechen. Und wenn man das Gefühl hat, dass Begriffe, die zur Analyse dienen, sich verselbstständigt haben und im Kontext der Öffentlichkeit anders besetzt sind, dann löst man sich davon. Warum sich nicht vom Begriff des Holocaust lösen? Raul Hilberg hat schlicht und ergreifend vom Judenmord gesprochen, das finde ich eigentlich viel besser als diese gefüllten "Behälter".
Birthe Kundrus:
Es geht nicht darum, zu sagen: "Der Begriff hat sich nicht bewährt." Er hat durchaus Erkenntnisse gebracht. Doch ich finde, es ist an der Zeit - so wie auch bei Begriffen wie Totalitarismus oder Faschismus - zu überprüfen und festzustellen, ob er seinen Zweck für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung noch erfüllt. Oder hat er nicht zu viele Inhalte, die er immer mit sich transportiert? Gibt er nicht eine bestimmte Sichtweise auf diese Mega-Gewaltereignisse vor, die man in vielen Ereignissen gar nicht wieder findet? Müssen wir dieses ganze Gepäck immer mitschleppen, oder können wir ihn nicht für den Augenblick aufgeben und eine andere Sichtweise versuchen?
Reinhart Kößler:
Raul Hilberg konnte, wenn ich mich recht entsinne, den Begriff Holocaust noch nicht verwenden. Soweit ich das beurteilen kann, ist der Begriff erst mit der berühmten Fernsehserie 1979 popularisiert worden.
"Genozid" weist nun eine sehr andere Begriffsgeschichte auf. Da geht es nämlich von vorneherein um ein Phänomen des frühen 20. Jahrhunderts. Es geht darum, nicht mit dem Judenmord, sondern mit dem Mord an den Armeniern begrifflich, historisch und juristisch umzugehen. Aber durchaus mit der Perspektive: "Es kann wieder passieren", und durchaus immer auch juristisch.
Was wir als Wissenschaftler tun und schreiben, passiert nicht im luftleeren Raum, das wird außen wahrgenommen und verarbeitet. Wenn Sie auf deutsch im entsprechenden Organ - das ist jetzt keine Fiktion - eine Kritik am Genozidbegriff zusammen mit einer differenzierten Analyse des Hererokrieges veröffentlichen, dann müssen Sie damit rechnen, dass einige Zeit später in der "Allgemeinen Zeitung" in Windhuk steht: "Frau Kundrus behauptet, dass es sich nicht um einen Völkermord handelt."
Birthe Kundrus:
Bedeutet das, dass ich nicht mehr schreiben darf, was ich will?
Reinhart Kößler:
Das liegt mir völlig fern. Doch was Sie schreiben, wird schnell wieder zurückkommuniziert, und Sie finden Teile Ihrer Aussagen auf kolonialapologetischen Websites, die in Deutschland betrieben werden, die dann wiederum von Schülern anklickt werden, die über den Kolonialismus ein Referat halten wollen. Ich möchte uns kein Denk- oder Schreibverbot auferlegen, wir sollten uns aber über die möglichen Folgen unserer begrifflichen Strategien im Klaren sein. Und wir sollten Vorkehrungen treffen, dass wir nicht in Ecken gestellt werden, in denen wir absolut nicht stehen.
Jürgen Zimmerer:
Wenn wir den Genozidbegriff abschaffen wollen, müsste man mir sagen: Was wollen wir dann als Konzept verwenden? Denn die Frage, die Reinhart Kößler gerade angesprochen hat, ist: Warum gibt es den Begriff Genozid?
Über den Begriff Holocaust, und wie er aufgeladen ist, wissen wir Bescheid. Aber der Begriff Genozid stammt ja daher, dass Raphael Lemkin der Meinung war, dass es eine Art von Gewalt gibt, die sich von Krieg und anderen Formen von Massengewalt unterscheidet, weil sie ethnische und andere Kollektividentitäten und ethnische Gruppen biologisiert und vernichten will. Weil es eben ein Kampf, ein Verbrechen gegen Kollektividentitäten darstellt. Man kann das bei Raphael Lemkin nachzeichnen, der mit Barbarei und Vandalismus argumentiert hat als ersten Versuch, und der dann Armenien und den Holocaust zusammen dachte und zu dem Schluss kam: Es gibt ein Verbrechen, das sich von Krieg und selbst von zivilen Opfern im Krieg unterscheidet. Weil es auch Kulturgüter zerstört, weil es Gruppen vernichtet, weil es - wenn möglich - auch die Erinnerung an die Gruppen zerstört und damit im Grunde - wie man heute sagt - die kulturelle Diversität attackiert.
Wenn wir uns darauf einigen, dass es diese Art Verbrechen gibt, dann brauchen wir einen Begriff dafür. Wenn wir - wie es Christian Gerlach versucht hat - von "extremely violent societies" sprechen, dann vermengen wir alle Arten von Verbrechen. Dann können wir diese spezifische Art von Verbrechen nicht mehr unterscheiden, die den Holocaust, den Judenmord so schrecklich macht, aber auch die Ermordung der Sinti und Roma und meiner Meinung nach auch den Hererokrieg.
Jörg Später:
Ich möchte noch einmal auf die unterschiedlichen Vernichtungslogiken von Antisemitismus und Rassismus hinweisen. Die Theorie der jüdischen Weltverschwörung hat ja vielleicht schon eine gewisse Vernichtungslogik inhärent, die Saul Friedländer schon mit dem Begriff Erlösungsantisemitismus beschreiben wollte.
Heiko Wegmann:
Noch einmal zur Frage des Tabubruches: Herr Zimmerer sagt, dass es die Erfahrung des Tabubruches gebraucht hätte, um im Nationalsozialismus Verbrechen noch größeren Ausmaßes zu ermöglichen. Frau Kundrus hat eingeworfen, man solle doch jenseits von Sonderwegsthesen Kolonialismus als Gewalterfahrung, als europäische Geschichte sehen. Wenn man nun direkte Verbindungslinien zwischen Windhuk und den späteren Kriegen bzw. dem Ostfeldzug ziehen will: Personelle Kontinuitäten kann man relativ wenige sehen, auf Militärkonzepte wurde sich wenig direkt bezogen. Auf der anderen Seite war der Kolonialismus vielleicht als gesamtgesellschaftliches Setting noch präsent. Doch es stellt sich die Frage: Was geschah sonst noch?
Als konkretes Beispiel würde ich hier den Abessinienfeldzug anführen. Im Oktober 1935 marschierte Italien mit einer gigantischen Kolonialarmee in Ostafrika ein, ein Kolonialkrieg bis dahin völlig unbekannter Ausmaße, auch was die Beteiligung italienischer Truppen angeht. Die ersten Giftgasbombardierungen größeren Maßstabes gegen die Zivilbevölkerung fanden statt, und diejenigen Historiker, die sich damit befassen, weisen darauf hin: Zum Polenfeldzug gibt es sehr starke Analogien.
Was nach Ende des Krieges (der Abessinienfeldzuges hat nur sieben Monate gedauert) bis zur Befreiung Abessiniens passierte, hat sogar noch viel mehr Opfer gefordert, weil bestimmte Gruppen ausgerottet wurden. Es war also wirklich das Ziel, bestimmte Gruppen, Bevölkerungsteile, Religionsgemeinschaften usw. wirklich auszuradieren. Diese fordern jetzt Aufmerksamkeit ein.
Die Nationalsozialisten haben sehr genau beobachtet, was da seinerzeit passiert ist. Zudem hat es eine Wende in den deutsch-italienischen Beziehungen hervorgerufen. Die Haltung Italiens gegenüber Deutschlands im Völkerbund hat sich verändert, nachdem Deutschland Italien im Abessinienfeldzug unbehelligt vorgehen ließ.
Meine Frage ist nun: Müsste man dann nicht den Genozid in Namibia wiederum in eine Reihe mit allen anderen möglichen Gewalterfahrungen stellen, oder eben einfach noch verschiedene Dinge kontextualisieren? Ist die Erfahrung des deutschen Kolonialismus, und speziell der Gewalterfahrung in Kolonialkriegen, ein Teil einer ganzen Reihe von Erfahrungen, die sich auf irgendeine Weise im Ostfeldzug niedergeschlagen haben?
Jürgen Zimmerer:
Glauben Sie, dass es eine Beziehung gibt zwischen dem Holocaust und dem Antisemitismus im frühen 19. Jahrhunderts in Deutschland? Oder sind das völlig voneinander abgetrennte Phänomene?
Heiko Wegmann:
Ich glaube schon, dass es da eine Beziehung gibt.
Jürgen Zimmerer:
Das heißt: Wir gestehen zu, dass es Verbindungslinien gibt, die nicht durch personelle Kontinuität geprägt sind. Warum wird dann aber mit zweierlei Maß gemessen? Wenn man eine koloniale Mentalitätsstruktur, eine koloniale Vorstellungswelt konstatiert, heißt es sofort: "Das muss aber personell nachgewiesen werden".
Heiko Wegmann:
So habe ich das nicht gesagt. Es gibt verschiedene Kriterien für Kontinuität. Wenn es personelle Kontinuitäten gäbe, müsste man sie festhalten, und dann schaut man auf der nächsten Ebene, etwa der Literatur. Da würde ich Ihnen Recht geben, dass 1937-1938 der Zeitraum war, in dem es wohl die meisten Neuerscheinungen in der Kolonialliteratur gab, und nicht 1907-1908.
Jürgen Zimmerer:
Diese Gier nach personellen Kontinuitäten führt doch in der Praxis zu absurden Ergebnissen: Als Verbindungslinie zu proklamieren, dass der in Deutsch-Südwest aktive Heinrich Göring der Vater von Hermann Göring war, ist doch Quatsch. Das ist ja gar nicht der Bereich des Völkermords, als Heinrich Göring in Südwest war. Das gleiche gilt für Epp, der im Dritten Reich keine größere Rolle spielt und in die "koloniale Ecke" abgeschoben wird, die die Nazis nicht weiter interessierte.
Interessanter ist doch: Kann man Verbrechen der Nationalsozialisten eigentlich in eine Weltgeschichte des Kolonialismus einfügen? Wenn wir uns den Kolonialismus als große Matrix vorstellen, macht es Sinn, und wenn ja, in welchen Aspekten, den Nationalsozialismus einzuordnen? Das geht auch mit dem Abessinienkrieg.
Und deshalb ist es mehr oder minder egal, ob es eine personelle Kontinuität gibt. Es ist doch unerheblich, ob Hitlers oder Himmlers Vorstellung über die englische Kolonialherrschaft in Indien irgendetwas mit der Realität zu tun hatte oder nicht. Wichtig ist doch der Vorstellungsraum, den sie hatten. Und der speist sich aus dem deutschen Kolonialismus, aus dem europäischen Kolonialismus, ja sogar aus Karl May-Büchern, also aus rein fiktionalen Erzählungen. Doch daraus entsteht eine imperiale und koloniale Vorstellungswelt, die dann wirkungsmächtig wird.
Was bei den Wortmeldungen immer mitschwingt ist: "Sie und die Vertreter dieser Richtung wollen ja nur diesen einen Weg herausarbeiten!" Das halte ich für polemisch.
Birthe Kundrus:
Den Weg geben Sie ja vor. Wenn man seinem Buch den Titel "Von Windhuk nach Auschwitz" gibt, dann ist der Weg doch relativ linear, selbst wenn er mit einem Fragezeichen versehen ist. Aber ich bin froh, dass Sie das Argument, dass es einen kolonialen Resonanzboden und Transfers gibt, annehmen. Vielleicht können wir diesen unscharfen Begriff "Verbindungslinien" etwas konkretisieren.
Jürgen Zimmerer:
Jetzt kommen wir zum Kern der Auseinandersetzung. Worum es eigentlich geht, ist, dass die Diskussion unzulässig diffamierend geführt wird. Es ist beispielsweise nicht wahr, dass ich in meinen Arbeiten eine monokausale oder monolineare Verbindungslinie gezogen hätte. So steht selbst der Hinweis auf Karl May, auf die populäre Vorstellung vom Wilden Westen in meinen Aufsätzen.
Christian Stock:
Ihr Ansinnen, Genealogien oder Verbindungslinien aufzuzeigen, ist vollkommen legitim, das ist nicht der Punkt. Aber Sie lassen eine Leerstelle. Sie sprechen nicht über die Brüche, die Diskontinuitäten, die unterschiedlichen Ideologien und so weiter. Sie fragen sich auch nicht, warum Großbritannien als Erfinder des concentration camps im kolonialen Kontext eben später keine Vernichtungslager hervorgebracht hat. Italien, das mit dem Abessinienkrieg einen brutalen Kolonialkrieg führte, war später ein faschistisches Land, Spanien mit seiner großen kolonialen Erfahrung ebenfalls. Die westlichen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien waren hingegen niemals faschistisch. Warum das so war, ist eine spannende Frage, die Ihre Genealogie teilweise auf den Kopf stellen würde. Aber das ist nicht Ihr Forschungsinteresse. Daran entzündet sich die Kritik.
Jürgen Zimmerer:
Ich habe ausführlich dargelegt, dass der Antisemitismus sich vom Kolonialrassismus darin unterscheidet, dass man die Juden als Bedrohung wahrnahm. Dass der Antisemitismus sich aus einem Unterlegenheitsgefühl entwickelte, was für den Kolonialrassismus nicht festzustellen ist. Was soll ich denn machen, wenn niemand die Texte genau liest?
Birthe Kundrus:
Im Bereich der tatsächlichen Wiedererlangung von Kolonien würde ich durchaus Kontinuitäten feststellen. Da findet sich Ritter von Epp, der dann immer wieder als "Depp" diffamiert worden ist. Diese Kontinuitäten sind aber auch immer mit Brüchen innerhalb der Ziele der Nationalsozialisten versehen. Der Wunsch, wieder an Kolonien zu gelangen, richtet sich nicht mehr auf die "alten" deutschen Kolonien, sondern auf Mittelafrika oder Madagaskar. Man glaubt, der Sieg über Frankreich liefere automatisch dessen Kolonien mit. Auch da mischt sich immer Altes mit Neuem.
Der Begriff des Transfers meint jedoch noch eine andere Idee: Transfer bedeutet, dass aus einem anderen Diskurs, aus einem anderen inhaltlichen Zusammenhang Momente übertragen werden. Aus der kolonialen Kriegführung wird in die Kriegführung gegen die Sowjetunion z.B. die Nichtunterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten übernommen. Oder die Ausrottung der Native Americans in den USA wird von den Nationalsozialisten als Legitimationsmuster aufgegriffen. Hitler sagte: "Wir müssen es nur machen wie die Amerikaner damals mit den Indianern." Das ist auf der einen Seite eine Drohung gegenüber der jüdischen Bevölkerung, auf der anderen eine historische Legitimation, die er einzuholen versucht. Das ist der Transfer dabei.
Gleichzeitig hat ein Transfer aber immer ein Moment von Produktion. Es ist nicht nur eine Aneignung, nicht nur eine Eins-zu-eins-Kopie, sondern hier wird auch etwas seitens der Nationalsozialisten "produziert" und mit eigenen Ideen, mit eigenen Vorstellungen aufgeladen. Das Transferierte verändert sich im Prozess dieser Übersetzung. Das ist auch die eigentliche Herausforderung für weitere Forschung: Warum werden gerade bestimmte Momente aus der jahrhunderte langen Kolonialgeschichte ausgewählt und von nationalsozialistischen Akteuren für bestimmte Zwecke eingesetzt? Das wäre eine wirklich innovative Nutzung dieses "colonial archives".
Laetitia Lenel:
Herr Zimmerer, Sie wollen eine Verbindung aufzeigen, aber keinesfalls eine lineare Bestimmtheit der Geschichte. Und auch Sie, Frau Kundrus, wollen von Transfers sprechen, also von existierenden Verbindungen. Worüber diskutieren Sie dann? Man kann doch mit Sprache exakt ausdrücken, was man meint. Was ist denn der Kern ihrer Auseinandersetzung? Geht es wirklich nur um Begriffe?
Birthe Kundrus:
Es gibt sicherlich einen großen Streitpunkt zwischen uns, der lautet: Wie sinnvoll ist der Genozidbegriff? Sollten wir uns davon lösen? Der zweite Punkt ist die Frage nach der Bedeutung des deutschen Kolonialismus für die deutsche Geschichte. Das ist gestern für mich etwas ungelöst geblieben, denn wenn wir sagen, dass Kolonialismus eigentlich ein europäisches Phänomen ist, dann lösen wir uns von dieser sehr stark nationalgeschichtlichen Betonung.
Das sind die beiden Punkte, an denen ich sagen würde: Wir müssen gar nicht so defensiv argumentieren und den Kolonialismus über einen Vergleich mit Auschwitz oder dem Dritten Reich aufwerten. Lassen Sie uns doch offensiv sein und sagen: Es hat den Kolonialismus gegeben, und wir müssen akzeptieren, dass er bis heute Folgen hat. Diese liegen vielleicht nicht auf den von Ihnen vermuteten Gebieten, aber wir müssen die Bedeutung des Kolonialismus nicht nur durch eine Verbindung mit dem NS hervorheben. Gerade, weil er bisher ein marginalisiertes Phänomen der deutschen Geschichte ist, wie Herr Zimmerer das eingangs richtig gesagt hat.
Laetitia Lenel:
Herr Zimmerer, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, wenn Sie betonen, dass die Verbindungslinien nicht übersehen werden dürfen, sich aber andererseits ständig falsch verstanden fühlen und sagen: Ich will doch gar keine Verbindungslinie aufzeigen. Was ist denn der Unterschied?
Jürgen Zimmerer
Eine Debatte ist ein Prozess. Wenn sie offen und intellektuell redlich geführt wird, dann verändern sich in diesem Prozess Positionen. Wenn ich Frau Kundrus' Argumentation höre bezüglich Transfer als intentionaler Prozess: Eine so direkte intentionale Übernahme des Kolonialismus hätte ich niemals zu behaupten gewagt. Sie postulieren mit dem Transfer eigentlich eine viel "bewusstere" Übernahme als das, was ich skizziert habe. Das zeigt, wie sich diese Debatten verändern. Es geht mir darum, die Verbindungslinien aufzeigen, ohne es kausal, monokausal oder linear zurückzuführen auf den deutschen oder europäischen Kolonialismus.
Der Kern der Debatte war am Ausgangspunkt, dass jemand für eine Neubewertung des Nationalsozialismus eintritt. Und das wurde aus verschiedenen wissenschaftlichen und politischen Gründen abgelehnt. Mein Buch "Von Windhuk nach Auschwitz" ist noch nicht einmal erschienen und wird schon niedergemacht. Als die ersten Attacken kamen, gab es den Titel noch gar nicht. Es ist also nicht wahr, dass alles ein Missverständnis ist, weil ich diesen Buchtitel gewählt habe.
Wenn ich mittlerweile von Ulrich Herbert höre: "Der Krieg im Osten war ein Kolonialkrieg": Vor sieben Jahren hier in Freiburg habe ich das noch nicht so gehört. Auch da gibt es eine Entwicklung in der Debatte. Das ist ja auch gut so.
David Bexte:
Wäre es nicht interessant, sich beim Vergleich des Kolonialismus mit dem Nationalsozialismus noch stärker auf die 1920er Jahre zu konzentrieren? Zu untersuchen, wie sich Konzepte in der Zwischenkriegszeit weiterentwickelt haben, die bereits im Kolonialismus Anklang fanden? Und daraus vielleicht erklären zu können, warum Kolonialismus sich auch im Nationalsozialismus wieder findet? Auch diese Frage bleibt: Wenn Kolonialismus als europäisches Phänomen zu sehen ist, gibt es dann noch einen spezifischen deutschen Kolonialismus?
Birthe Kundrus:
Hier würde ich wieder sagen: Die Forschung ist, was koloniale Kriegführung angeht, eher in einem internationalen Rahmen zu sehen. Es ist herauszufinden, was die Kolonialmächte aus ihren Kolonialkriegen in den Ersten Weltkrieg hinein transportiert haben, und was dann in der Zwischenkriegszeit passiert ist. Da spielt Deutschland keine so große Rolle. Beispielsweise wird gerade diskutiert, inwiefern der Bombenkrieg, der 1911 das erste Mal in Nordafrika gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurde, als Mittel im Ersten Weltkrieg auf den europäischen Schauplatz zurückkehrte. Durch die Briten wurde er dann wieder im Irak eingesetzt, und so weiter. Diese Wanderbewegungen werden jetzt nachvollzogen.
Das Militär als ausübende Institution von solchen Gewaltaktionen in Kriegen rückt immer mehr in den Mittelpunkt der transnationalen Geschichtsforschung, auch in institutionsgeschichtlicher Perspektive. Wie gehen militärische Einrichtungen eigentlich mit ihren Gewalterfahrungen um? Wie sehr stützen sie sich nicht unbedingt auf direkt gemachte Erfahrungen, sondern auf "Auswertungen" dieser Erfahrungen in anderen Ländern? Es gab ein Reservoir internationalen Wissens, das die Deutschen für sich nutzbar machen konnten.
Jürgen Zimmerer:
Sie meinten das wohl nicht so, aber Sie sagten: Der Kolonialismus endet, und dann kommt die Weimarer Republik. Der Kolonialismus endet jedoch nicht, er dauert bis heute an. Nur als Hinweis darauf, dass wir automatisch in nationalgeschichtlichen Schablonen denken. Selbst der deutsche Kolonialismus läuft nach 1918 weiter, der internationale auf jeden Fall. Das Problem ist unsere Vorstellung von Kolonialismus. Kolonialverbrechen, die in den Kolonien begangen wurden, sind natürlich auch Verbrechen einer deutschen, französischen, britischen Bürokratie, Armee, etc. Austauschprozesse, da würde ich völlig übereinstimmen, sind dabei vorhanden. Denn es ist ja der Generalstab in Berlin oder es ist eine preußische Militärtradition, die die Franktireurs bekämpft im Krieg von 1870/71, und die später die Herero bekämpft.
Ein gutes Beispiel für den Hererokrieg ist C.E. Calwells Buch "Small Wars", das Standardhandbuch der britischen Armee für Guerillabekämpfung:In der Auflage von 1906 sind bereits zwei Absätze über den Hererokrieg zu finden, in denen der Autor von Trotha ein totales Versagen attestiert. Die Briten schickten damals sofort einen Militärattache in den Kommandostab von Trothas, der beobachten sollte: Wie gehen die Deutschen mit der Situation um? Sie hatten ja ein Problem, das auch in britischen Kolonien auftauchen kann. Wir haben es hier also mit Lernprozessen, Austauschprozessen - und wenn Sie so wollen Transferprozessen - zu tun.
Eine globale Gewaltgeschichte muss kontinentübergreifend argumentieren. Sie kann nicht Ereignisse ignorieren, weil sie nicht in Europa stattfinden. Es müssen also - um die extremste Bandbreite aufzuzeigen - Phänomene wie die "frontier violence" von Siedlermilizen in Australien oder Colorado und der Ostkrieg in einem Begriff zusammengebracht werden. Und erst wenn sich herausstellt, dass das überhaupt nicht machbar ist - und ich glaube, dass es machbar ist -, dann kann man weiterdenken. Zunächst muss man es aber global begreifen, und wir begreifen es immer noch viel zu sehr national.
Das kann man schon an der Frage sehen, wann eigentlich der Zweite Weltkrieg beginnt. Wir denken meist 1939. Aber aus chinesischer Sicht ist es 1937. Die Zeit, in der Europa und Nordamerika die weltweiten Curricula bestimmten, dürfte sich definitiv dem Ende zuneigen. Die Globalgeschichte und die globalisierte Geschichte werden kommen, ob wir das akzeptieren oder nicht.
Darum geht es eigentlich im Kern, und da ist glaube ich auch das fruchtbare und in die Zukunft weisende Element dieser Debatten. Es geht eben nicht um den deutschen Kolonialismus. Ich glaube - und da unterscheiden Frau Kundrus und ich uns - dass der Hererokrieg kein Kolonialkrieg war wie jeder andere. Darin liegt auch die Bedeutung des Genozidbegriffs. Von mir aus benutzen Sie ein anderes Wort, aber es gibt nicht viele Kolonialkriege, in denen über vier Jahre mit Rückendeckung der höchsten Militärs zwei ethnische Gruppen komplett vernichtet werden sollten. Das ist etwas Besonderes. Das steht zwar in einer Tradition der europäischen Kolonialkriege vorher, das strahlt aus in die Kolonialkriege nachher, es strahlt auch aus in die europäischen Kriege. Aber es ist schon etwas Spezifisches. Auch wenn man sich den Kolonialismus in Deutsch-Südwest allgemein anschaut, finden sich dort Spezifika, die es in britischen, französischen oder portugiesischen Kolonien nicht gab.
Transkription: Fabian Holzheid. Redaktionelle Bearbeitung: Fabian Holzheid/ Christian Stock
Übersicht zur Debatte: iz3w-Vorwort Zum Text
Philip Geck und Anton Rühling: Vorläufer des Holocaust? Die Debatte um die (Dis-)Kontinuität von Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308) Zum Text
Jörg Später: Gegenläufige Erinnerungen. Historizität und politischer Kontext der Debatten um Kolonialismus und Nationalsozialismus (iz3w 308) Zum Text
Jürgen Zimmerer: Der erste deutsche Genozid. Zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust (Vortragsmanuskript) Zum Text
Birthe Kundrus: Entscheidende Unterschiede. Für die Frage nach den Verbindungen zwischen Kolonialismus und NS ist der Genozid-Begriff wenig hilfreich (Vortragsmanuskript) Zum Text
Podiumsdiskussion (Transkription) Zum Text
Seminar (Transkription) Zum Text
Heiko Wegmann: Kokospalme mit Hakenkreuz -
Die Kolonialbewegung in Freiburg während des Nationalsozialismus (pdf, aus iz3w 313) Zum Text
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