Ein Monumentalwerk Afro-Europäischer Kultur
Wer kennt nicht die große Tänzerin, Sängerin und Schauspielerin Josephine Baker oder den Boxer Jack Johnson? Unter Fachleuten sind noch bekannt die Schauspieler Ira Aldridge und Paul Robeson. Aber wem sind Bert Williams, Henry Make Johnson, Arabella Fields, George Jackson, Georgia Piccaninnies, Josephine Morcashani oder Louis Douglas ein Begriff? Was ist mit den Bands und ihren Mitgliedern wie den ‚Four Black Diamonds’, ‚Black Troubadours’ oder dem ‚Savoy Quartet’? Fast alle diese Männer und Frauen der afroamerikanischen oder afrikanischen Diaspora, die als Musiker, Sänger, Tänzer, Schauspieler, Entertainer oder Sportler in Europa auftraten und lebten sind heute in Vergessenheit geraten. Mit „Black Europe“ wird diese versunkene Welt dem Vergessen entrissen. Das Ton-, Bild- und Textwerk erzählt von Schwarzen Künstlern und ihrer Musik in Europa im Zeitraum der 1890er bis Anfang der 1930er Jahre. In Erinnerung gerufen wird aber auch die Geschichte Schwarzer Soldaten, Studenten und Sprachlektoren bis hin zu namentlich nicht bekannten Afrikanern, die in Völkerschauen auftraten.
Man kann es nicht anders sagen, „Black Europe“ ist ein Monumentalwerk der Superlative. Es besteht aus einem Schuber mit 45 CDs mit rund 1200 Tonaufnahmen und zwei dickleibigen Büchern. Die Bände versammeln neben den wissenschaftlichen Aufsätzen aberhunderte Bild- und Textdokumente. Ediert wurde „Black Europe“ von dem Bonner Musik-Archäologen Rainer Lotz und seinen beiden britischen Kollegen Jeffrey Green aus Crawley und Howard Rye aus London. Als Toningenieur zeichnete der Berliner Christian Zwarg verantwortlich. Bemerkenswert ist, dass das aus privater Initiative entstandene Werk ohne jedwede Fördergelder finanziert wurde.
Die Plattenfirma ‚Bear Family’ stieß mit diesem Projekt an ihre finanziellen Grenzen. „Black Europe“ schließt sich an andere Studien zum Thema an, darunter „Le Paris Noir” (2001), „Black Paris“ (2007), „Black Britain” (2007), „Black Europe and the African Diaspora“ (2009), „Black Berlin” (2013) oder „Black Germany” (2013).
Bei den Tonaufnahmen, die anzuhören man allein viele Wochen beschäftigt ist, handelt es sich um einmalige Dokumente schwarzer Musikgeschichte. Es war damals das Zeitalter der Jazz-Rhythmen und des Blues. Afroamerikanisch inspirierte Tänze wie Charleston, Shimmy, Blackbottom und Foxtrott eroberten nach dem Ersten Weltkrieg die Unterhaltungskultur in den europäischen Metropolen. „Black was the colour, Jazz was the sound.“ Josephine Baker, die Ikone des Jazz-Zeitalters, verkörperte für das weiße Publikum den „edlen Wilden“ bzw. die "edle Wilde". Mit den Auftritten der „schwarzen Venus“ verband sich vor allem die Vorstellung von sexueller Freizügigkeit. Einerseits bediente Baker bestehende exotistische Klischees und Stereotype, andererseits hielt sie den Weißen durch ihre subversive Komik auch den Spiegel vor. Ihr bis heute im kollektiven Bildgedächtnis haften gebliebenes Bananenröckchen wurde seinerzeit als Zeichen ihrer „primitiven“ Herkunft rezipiert. Die wenigsten werden hingegen Bakers Spiel mit den phallischen Bananen als eine Persiflage weißer männlicher Begierde gelesen und überhaupt verstanden haben.
Sieht man von Baker als dem ersten schwarzen Superstar des zwanzigsten Jahrhunderts ab, erhält „Black Europe“ seinen Wert vor allem dadurch, dass fast alle der hier präsentierten Tonaufnahmen in den gängigen großen Jazz-Sammlungen nicht zu finden sind. Denn unter Puristen galten viele dieser Jazz-Gruppen, wenn sie sich anders anhörten als Louis Armstrong und Fletcher Henderson, nicht als richtige Jazzer. Wie Rainer Lotz in einem Interview anmerkte, produzierten Gruppen wie das ‚Ciro’s Club Coon Orchestra’ oder die ‚Versatile Four’ mit ihren Songs und Instrumentalstücken regelrechte Kakophonien. „Die Musiker droschen auf Schlaginstrumente ein, schossen mit Pistolen in die Luft, pfiffen auf Slidewhistles, setzten Banjo-Breaks in ihre Songs und schrien dazwischen. In diesen Darbietungen kann man Vorläufer des Jazz entdecken.“
Auch die Musikgeschichtsschreibung in den USA nahm diese in Europa entstandene Musik nicht zur Kenntnis. Vergleichbare Aufnahmen von afroamerikanischen Musikern gibt es in den US-Archiven nicht, hatten doch Schwarze damals - aus rassistischen Gründen - keinen Zugang zu den Tonstudios. Die Plattenfirmen meinten, dass es keinen Markt für schwarze Musik gäbe. Allerdings waren die Schwarzen Entertainer, die das Bedürfnis nach Exotik, Erotik und Ekstase befriedigen mussten, auch in Europa mit Rassismus konfrontiert. So gewährt „Black Europe“ tiefgehende Einblicke in das Kolonialzeitalter, in die Geschichte der europäischen Migration von Afroamerikanern und Afrikanern, aber auch von widerständiger Kultur und Eigensinn Schwarzer Menschen. Bei der Betrachtung der unzähligen Fotografien und Grafiken, die oftmals das Klischee und stereotype Abziehbild des „Anderen“ zeigen, müssen sich LeserInnen eine kritische Distanz bewahren, um dem „kolonialen Blick“ nicht auf den Leim zu gehen.
„Black Europe“ bewahrt einen einzigartigen Kulturschatz jener Afro-Amerikaner, Afro-Europäer und Schwarzen aus Afrika und der Karibik, die die europäische Unterhaltungsindustrie bereichert haben. Bei dem hohen Preis kann man diesem Standartwerk nur wünschen, dass es von vielen Universitäts- und Staatsbibliotheken angeschafft wird.
Joachim Zeller
Jeffrey Green / Rainer E. Lotz / Howard Rye (eds.): Black Europe. The Sounds and Images of Black People in Europe pre-1927.
Vol. 1: 1889-1910. With contributions by Horst Bergmeier, Konrad Nowakowski, Susanne Ziegler;
Vol. 2: 1910-1930. With contributions by Horst Bergmeier, Hans-Jürgen Mahrenholz, Holger Stoecker;
Vol. 3: CDs (Disc 1-44; Disc 45 Index),
Bear Family Productions Ltd. www.bear-family.com, 2013, ISBN: EAN 5-397102-160950. Preis: 799,- Euro.
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