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Siehe auch zum Thema:

iz3w: Geteilte Geschichte, geraubte Erinnerung - Über die Freiburger Schädelsammlung und die Rückgabe von Kulturgütern, Editorial der Zeitschrift iz3w Nr. 307 (2008) Mehr

Seidler, Christoph: »Opfer ihrer Erregungen« - Die deutsche Ethnologie und der Kolonialismus (2004) Zum Text

Margarete Brüll: Kolonialzeitliche Sammlungen aus dem Pazifik - Ethnografika im Adelhausermuseum als Freiburger Erbe des Kolonialismus (pdf, 28 Seiten) Mehr

Edgar Dürrenberger: Freiburg und Afrika - Afrikanische Ethnografika als Freiburger Erbe des Kolonialismus im Adelhausermuseum Mehr

Berger, Tanja: Räuber, Retter und Gelehrte - Die Debatte um die Rückgabe geraubter Kulturgüter (2001), Zum Text

Anja Laukötter: Von der »Kultur« zur »Rasse« – vom Objekt zum Körper? Völkerkundemuseen und ihre Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts

cover Laukötter

In der Zeit zwischen 1860 und 1870 entstanden in den größeren deutschen Städten in rascher Folge zahlreiche Völkerkundemuseen – eine Reaktion darauf, dass im Zuge der ausgreifenden europäischen Expansion die ‚fremde Welt’ beschleunigt näher an Europa heranrückte. Um 1900 waren sie – anders als heute - als Orte konzipiert, die sich den ‚neuentdeckten’ Räumen der Welt und ihren Völkern ‚wissenschaftlich’ widmen wollten. So entwickelten sich in ihnen die Anfänge der ‚Völkerkunde’ – eine Wissenschaft, die sich erst 1920 an deutschen Universitäten richtig mit Professuren verankern konnte, und die heute gemeinhin als ‚Ethnologie’ bekannt ist.

Die Historikern Anja Laukötter hat sich in ihrer nun veröffentlichten Dissertation zwei der bedeutendsten Museumsdirektoren dieser Zeit zugewandt: Georg Thilenius (1868-1937) und Felix Ritter von Luschan (1854-1924).

Die beiden einflussreichen Vorstände der Museen in Hamburg und Berlin, die zu den größten und bedeutendsten gehörten, können dabei als ausgesprochene Aktivposten ihrer jungen Disziplin gelten. Sie organisierten nicht nur Forschungsreisen und -expeditionen während der Kolonialzeit, sondern waren auch unter den ersten, die mit Lehraufträgen die Völkerkunde an den Universitäten vertraten, um dann, nach dem Ersten Weltkrieg, erste Lehrstühle einzurichten. Der Blick zurück auf das Wissenschaftsverständnis und die Forschungs- wie auch die museale Repräsentationspraxis der beiden Akteure richtet sich sowohl auf das Kaiserreich als auch auf die Weimarer Republik. Die Kernfrage, der die Autorin in ihrer detailreichen Studie nachgeht, dürfte dabei nicht nur für Historiker interessant sein: Wie reagieren die Akteure auf die veränderten politischen Rahmenbedingungen, die mit dem Beginn des ersten Weltkrieges auch das Ende der ersten ‚Blütephase’ der Völkerkunde bedeutete? Wie wirkt sich das Ende der Kolonialzeit auf die Ausformung der Völkerkunde und deren Deutungsangebote aus?

Anja Laukötter untersucht, übersichtlich gegliedert, sowohl die theoretischen Ansätze der beiden Wissenschaftler als auch deren wissenschaftliche Praxis in Forschung und Lehre sowie ihre Strategien der musealen Sammlung und Repräsentation. Dabei fächert sich dem Leser nicht nur auf beeindruckende Weise der Weltaneignungsdiskurs der Völkerkundler jener Zeit auf, deren Selbstverständnis in nicht weniger bestand als darin, das „Bedürfnis nach kultureller Deutung der ‚Schöpfung’ zu befriedigen“, und die ihre Museen dabei zu „sakralen Orten“ machten, versehen mit Kleidungs- und Verhaltensvorschriften für das geneigte Publikum.
Insbesondere verfolgt die Autorin in ihrer Arbeit die Frage, ob und wieweit die bis zur Jahrhundertwende allgemein gültige Einteilung der Welt in (europäische) „Kulturvölker“ und (außereuropäische) „Naturvölker“ durch die damals virulenten Diskurse über „Rassen“ beeinflusst und verändert wurde: Veränderten sich nun auch völkerkundliche Perspektiven? Genauer gefragt: Wandten sich die Völkerkundler, die bislang mehr am Anhäufen von Gegenständen „materieller Kultur“ aus außereuropäischen Gebieten interessiert waren, nun intensiver den Körpern ihrer „Forschungsobjekte“ zu, und begannen sie nun auch mit der Kategorisierung europäischer Völker?
Die spannend geschriebene Fallstudie lässt dabei zwar zwei durchaus unterschiedliche Wissenschaftler erkennen. Gemeinsam war ihnen jedoch, dass sie noch keinen Wert darauf legten, Anthropologie und Völkerkunde scharf voneinander abzugrenzen. Auch an methodischen Festlegungen zeigten sie sich wenig interessiert. Und für beide konstatiert die Autorin eine im Laufe der Jahre erkennbare Prioritätenverschiebung hin zu einer immer mehr „rassenorientierten Forschungsperspektive“. Bei von Luschan früher als bei Thilenius, bedingt diese Verschiebung nach dem Ende des ersten Weltkrieges und dem damit einhergehenden Verlust der deutschen Kolonialgebiete eine sich sichtbar verändernde Forschungspraxis. Nachdem während des ersten Weltkrieges bereits anthropologische Untersuchungen an europäischen Kriegsgefangenen durchgeführt worden waren (von systematischen Schädelvermessungen bis zu aufwändigen Tonaufnahmen 1), wurde nun auch die deutsche Bevölkerung zum Objekt völkerkundlicher Studien. So veranlasste etwa Thilenius in den 1920er Jahren anthropologische Vermessungen der BewohnerInnen von Finkenwerder bei Bremen mit dem Ergebnis, sie gehörten eindeutig zur „nordischen Rasse“.

Diese erkennbare Interessenverlagerung hin zu einer fächerübergreifenden Bestandsaufnahme der eigenen nationalen Bevölkerung ging dabei einher mit der Konstruktion interner Feindbilder: „Minderwertige“, „Schwachsinnige“, „Straffällige“ und andere „Illegitime“ wurden zunehmend als Gefährdungspotential der „eigenen Rasse“ ausgemacht. Zwar äußerten sich beide Wissenschaftler, die als führende Völkerkundler ihrer Zeit gelten können, in durchaus unterschiedlichen Tonlagen. So deutete Thilenius bspw. eine mögliche Bevölkerungspolitik nur an, während von Luschan seine noch junge Wissenschaft vehement zur „Dienerin des Staates“ machen wollte. Beide Akteure bemühten sich in diesem Zusammenhang auch darum, dem Publikum ihrer Völkerkundemuseen „rassenkundliche Ausstellungen“ zu präsentieren: Während 1928 eine derartige Ausstellung in Hamburg unter Thilenius eröffnet wurde, gelang es von Luschan hingegen zu Lebzeiten nicht mehr, seine diesbezüglichen Pläne in Berlin zu realisieren.
Anja Laukötters akribisch recherchierte und gut lesbare Studie füllt dabei nicht nur für Wissenschaftshistoriker eine Forschungs- und für an der eigenen Fachgeschichte interessierte Ethnologen eine Wissenslücke. Das Ringen ihrer beiden Protagonisten erzählt nicht nur eine Geschichte über die Konjunkturen völkerkundlicher Deutungsangebote, sondern lässt ebenso das Ausmaß an Verunsicherung und notwendiger Selbstvergewisserung erkennen, das die Weltkriegsniederlage und der Verlust der Kolonien in den Kreisen der deutschen akademischen Elite hervorgerufen haben.

Christoph Seidler, August 2008

Anja Laukötter: Von der »Kultur« zur »Rasse« – vom Objekt zum Körper? Völkerkundemuseen und ihre Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2007, 388 S., kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-792-9, Transcript-Verlag: Inhaltsverzeichnis (PDF-Datei) Leseprobe (PDF-Datei)

 

Fußnote: Siehe z.B. Britta Lange: Die Welt im Ton. In deutschen Sonderlagern für Kolonialsoldaten entstanden ab 1915 einzigartige Aufnahmen, iz3w Nr. 307 - Juli / August 2008, S. 22ff. zurück

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