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Siehe auch zum Thema:

Susanne Kuss: Die Gesetze der Hunnen - Der deutsche "Kolonialkrieg" gegen die Boxer in China (2001). Zum Text

Mechtild Leutner: China - Dekolonisierung einer Kolonie (2001). Zum Text

 

Krieg in der Halbkolonie China - Die Boxerbewegung und ihre Niederschlagung 1900/01

cover Boxerkrieg

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts befand sich das chinesische Kaiserreich unter erheblichem inneren wie äußeren Druck. Auf der einen Seite hatten - von Menschen mitverursachte - Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Dürren zu schweren Hungersnöten mit Millionen Toten in Nordchina geführt. Die Unfähigkeit der (Zentral-)Regierung zur Krisenregulation, die Verelendung der ländlichen Bevölkerung sowie die Ausbreitung von Banden und Selbstschutzmilizen stellten die soziale Ordnung zunehmend in Frage. Auf der anderen Seite wurde China immer mehr zur Zielscheibe imperialistischer Mächte aus Europa, der USA, Russland und Japan. Die beiden Opiumkriege mit England (1839-42) bzw. England und Frankreich (1858-60) und der chinesisch-japanische Krieg (1894/95) hatten das Reich geschwächt. Es war jedoch noch zu handlungsfähig, um komplett kolonisiert zu werden.

Zur Durchdringung des Riesenreiches verlegten sich die untereinander konkurrierenden Imperialmächte auf eine Strategie der Erpressung von wirtschaftlichen Konzessionen, politischen Sonderrechten und der Okkupation einzelner besonders abgesicherter Stützpunkte. Ein wichtiger Hebel zur Destabilisierung waren die mit Sonderrechten wie rechtlicher Immunität ausgestatteten christlichen Missionen. So lieferten zahlreiche sog. Missionszwischenfälle immer wieder den Vorwand für internationale Interventionen verschiedenster Eskalationsstufe, im Falle Deutschlands sogar der militärischen Inbesitznahme des "Pachtgebietes Kiautschou" 1897.

In dem von Mechthild Leutner und Klaus Mühlhahn herausgegebenen Band "Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900–1901" wird beleuchtet, wie sich in dieser ebenso destabilen wie explosiven Gemengelage in Nordchina ab 1898 eine soziale Aufstandsbewegung ausbreitete. Aufgrund ihrer charakteristischen Kampfkunstkultivierung wurden die Yihequan (Vereinigte Fäuste für Gerechtigkeit) bald als "Boxer" bezeichnet. "Innerhalb sehr kurzer Zeit mobilisierten sie 400 000 bis 500 000 Bauern, die am Kampf teilnahmen, Kirchen niederbrannten und Ausländer töteten, Gleise herausrissen, ausländische Waren zerstörten und gegen die Truppen der alliierten Mächte einen Kampf auf Leben und Tod begannen", schreibt Sun Lixin, einer der drei chinesischen von insgesamt 16 AutorInnen des Sammelbandes. In den verschiedenen Beiträgen wird mit Bedacht das Spannungsverhältnis aufgezeigt, in dem sich die Boxer bewegten: selbstorganisierte soziale Protestbewegung und antiimperialistischer Abwehrkampf auf der einen Seite, religiöser Fanatismus, Verschwörungstheorien, Beschwörungszeremonien und ebenso pauschale wie mörderische Fremdenfeindlichkeit auf der anderen Seite. Diese Zwiespältigkeit sollte im Nachhinein Ausgangspunkt für völlig gegensätzliche Interpretationen der "Boxer" werden, die von scharfer Ablehnung durch prowestliche ReformerInnen bis zur instrumentalisierenden glühenden Verehrung durch die Roten Garden der maoistischen Kulturrevolution reichen sollte.

Kolonialdeutsches Selbstbild: "Zur Erinnerung an meine Dienstzeit in China" - Der "deutsche Aar" schlägt seine Fänge in den chinesischen Drachen, (Foto: H. Wegmann)

Den Aufständischen fielen im Vergleich zu westlichen Missionaren oder Bahnangestellten ein Vielfaches an chinesischen Christen zum Opfer. Der politische Siedepunkt wurde mit der Belagerung des Gesandschaftsviertels in Peking Mitte des Jahres 1900 erreicht. Ein Bündnis aus acht imperialistischen Mächten, an dessen Spitze sich das Deutsche Kaiserreich zu setzen versuchte, marschierte in China ein und führte einen offenen Kolonialkrieg auch gegen die kaiserliche Armee. Er endete mit der Unterwerfung Chinas und der Aufbürdung enormer finanzieller und politischer Lasten.

Das junge Deutsche Reich führte seinen ersten 'richtigen Krieg' mit dieser sog. Strafexpedition (sieht man einmal von stärker lokal begrenzten militärischen Auseinandersetzungen in den eigenen Kolonien ab). Die Militärs zielten um jeden Preis auf Praxiserfahrungen und Orden ab und suchten Schlachten, auch als es nichts mehr zu bekämpfen gab. Die AutorInnen weisen anhand verschiedenster Quellen nach, mit welcher Hemmungslosigkeit dabei vorgegangen wurde. Die mit ihrer Hauptstreitmacht 'zu spät' gekommenen Deutschen plünderten, brandschatzten und mordeten "was das Zeug hielt".

Dieses Vorgehen war durch Kaiser Wilhelm II. geradezu eingefordert worden. In seiner "Hunnenrede" bei der Verabschiedung des Ostasiatischen Korps in Bremerhaven hatte er z.B. die viel zitierte Anweisung gegeben, "Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht". Reden wie diese verfehlten ihre Wirkung bei den Soldaten nicht und wurden in der deutschen Öffentlichkeit auch weitgehend gerechtfertigt. Mit Ausnahme z.B. der SPD und ihrer Zeitung "Vorwärts", die teilweise scharfe Kritik übten, produzierten die meisten Deutschen pauschal chinesenfeindliche Klischees und sahen sich in der Rolle der Zivilisierten.

Das Herausgeberduo begründet im Vorwort den im Titel verwendeten Begriff "Kolonialkrieg" gegenüber sonst häufig verwendeten Bezeichnungen wie Boxeraufstand, -Rebellion oder -Expedition damit, den kolonialen Kontext der Ereignisse in den Vordergrund stellen und damit einen Vergleich mit anderen Kolonialkriegen möglich machen zu wollen. Letzteres bleibt leider völlig offen. Für die Frage der Ausbreitung antikolonialer Aufstandsbewegungen könnte z.B. eine näher zu untersuchende Parallele zum Maji-Maji-Krieg wenige Jahre später in Deutschostafrika bestehen. Die Aufständischen glaubten dort, durch ein heiliges Wasser und besondere Praktiken unverwundbar zu werden. Dieser Glaube stellte sich als ebenso mobilisierend wie im Folgenden verhängnisvoll heraus. Bei den Boxern hatte der Glaube, durch Geister und ritualisiertes Kampfkunsttraining unverwundbar durch Gewehr- und Kanonenkugeln zu werden, ein ähnliches Ergebnis. Man findet auch im ganzen Band weder Paul von Lettow-Vorbeck noch Lothar von Trotha: Die zwei Offiziere der China-"Strafexpedition" sind derzeit viel diskutierte Protagonisten späterer Kolonialkriege in Afrika und hätten vielleicht einen weiteren biographischen Verbindungspunkt darstellen können. Schließlich wäre komplementär zum Beitrag von Heike Frick über "Die Boxer im kulturellen Gedächtnis Chinas" einer über die heutige deutsche Erinnerungskultur spannend gewesen.

Der Sammelband ist ausgestattet mit einer gut ausgewählten und reichhaltigen Illustration (nur die mit einem kolonialen Sammelbild apologetisch wirkende Umschlaggestaltung erstaunt). Veranschaulicht wird damit die breite Palette an bearbeiteten Themen: Gute Detailstudien zum Widerstand gegen den deutschen Eisenbahnbau, der umstrittenen Frage, wer eigentlich für den Tod des deutschen Gesandten Clemens von Ketteler verantwortlich war, der internationalen Plünderung Pekings, schauerlichen Feldpostbriefen deutscher Soldaten oder der Sühnemission des Prinzen Chun nach Deutschland bieten Einblicke verschiedenster Art.

Heiko Wegmann, 04.03.2008

Mechthild Leutner/Klaus Mühlhahn (Hg.): Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900–1901, 24.90 EUR, 272 Seiten, 89 Abbildungen, Ch. Links Verlag, Berlin 2007, Reihe: Schlaglichter der Kolonialgeschichte, ISBN: 3-86153-432-0.

Auf der Verlagshomepage finden sich auch das Inhaltsverzeichnis und die Zeittafel zur Geschichte des Boxerkrieges.


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