logo

collage

Rubrik Personen auf www.freiburg-postkolonial.de

* Dank für Hinweise und Transkriptionen an Geert Naber, Philip Aubreville und Andreas Flamme

Prof. Eugen von Philippovich -

Nationale Integration duch Sozialstaat und Kolonialismus

von Heiko Wegmann (Juli 2007, letzte Aktualisierung: 20.08.2007)

Intensive Recherchen im Rahmen von freiburg-postkolonial.de* förderten eine ganze Reihe Informationen und Dokumente zutage, die den bekannten Sozialpolitiker Eugen von Philippovich in einem alles andere als sozialen Lichte erscheinen lassen, nämlich als "überzeugten Kolonialpolitiker", wie er sich selber einordnete. In diesem Beitrag wird ein Überblick über seine kolonialpolitischen Aktivitäten während seiner Freiburger Zeit gegeben. Diese umfassen eine rege publizistische Tätigkeit ebenso wie organisatorisches Engegement in der Gesellschaft für deutsche Kolonisation, dem deutschen Kolonialverein und dann anschließend in der Deutschen Kolonialgesellschaft. Für die weitergehende Beschäftigung mit Philippovichs Werk sind hier neben den angeführten Zitaten jeweils Links zu finden, die zu Volltextdokumentationen auf dieser Website führen.

  1. Zur Person Weiter
  2. Ein "überzeugter Kolonialpolitiker" Weiter
  3. Aktivitäten als 1. Vorsitzender der Deutschen Kolonialgesellschaft in Freiburg Weiter
  4. Auswanderung und Deutschtumspolitik Weiter
  5. Dokumentation: Rezension von "Peters, Dr. Karl: Deutsch-national. Kolonialpolitische Aufsätze" Weiter
  6. Dokumentation: Eugen von Philippovich: Englische Kolonialvereine Weiter
  7. Literaturangaben Weiter

1. Zur Person

Eugen Freiherr Philippovich von Philippsberg wurde am 15.3.1858 in Wien geboren und starb dort am 4.6.1917. Er studierte Jura und habilitierte in politischer Ökonomie bzw. Volkswirtschaft. Diese lehrte er von 1885 bis 1893 an der Universität Freiburg im Breisgau, zunächst als außerplanmäßiger Professor, ab 1888 als ordentlicher Professor. 1893 wurde er an die Universität Wien berufen, wo er 1905/06 das Amt des Rektors bekleidete. In Österreich wurde er zu einem der geistigen Führer der 1896 gegründeten Sozialpolitischen Partei (siehe auch Website der im Jahre 2002 wieder gegründeten Partei Die Sozialliberalen).

Sein wissenschaftlich-politisches Denken ähnelte der Vorstellungswelt Max Webers, der 1894 sein Nachfolger auf dem Freiburger Lehrstuhl werden sollte. Philippovich war Mitarbeiter des 1873 gegründeten Vereins für Sozialpolitik und engagierte sich für eine „nationale Integration und Mobilisierung“ der Arbeiterschaft durch eine Kombination aus Sozialstaatsausbau und Kolonialpolitik. In seinen Publikationen machte von Philippovich sich Gedanken über effektive Strategien „überseeischer Politik“ und beschäftigte sich mit dem Entwicklungsgang der wirtschafts- und sozialpolitischen Systeme und Ideale. So lautete sein Beitrag für das von Max Weber geplante, aber nicht publizierte Handbuch Grundriss der Sozialökonomik. In der Freiburger Zeit publizierte er Bücher wie "Der badische Staatshaushalt in den Jahren 1868 - 1889" (1889), "Wirtschaftlicher Fortschritt und Kulturentwicklung" (1892) und "Allgemeine Volkswirthschaftslehre" (1893).


Zum Seitenanfang


2. Ein "überzeugter Kolonialpolitiker"

Eugen von Philippovich wurde auf der Generalversammlung des Deutschen Kolonialvereins Freiburg im Breisgau am 31.01.1887 als Beisitzer in den Vorstand gewählt (Deutsche Kolonialzeitung vom 01.04.1887, S. 221, siehe Artikel). Er nahm bereits am 11. und 12.03.1887 als Vertreter der Freiburger Abteilung an der Vorstandssitzung des Deutschen Kolonialvereins, abgehalten im Hotel Kaiserhof zu Berlin, teil (Deutsche Kolonialzeitung, IV. Jahrgang, Heft 7/1887, S. 217). Und am 06.05.1887 hielt er als Vertreter der Abteilung Freiburg einen Vortrag mit dem Titel „Allgemeiner Überblick über den Stand der kolonialen Unternehmungen“ auf der vierten ordentlichen Generalversammlung des Deutschen Kolonialvereins in Dresden (Deutsche Kolonialzeitung, Heft 11/1887, S. 333-340, siehe Artikel). Dem Vortrage wohnten ca. 100 ZuhörerInnen bei (ebenda, S. 330).

Die Deutsche Kolonialzeitung (DKZ) berichtete zusammenfassend über seinen Vortrag auf der Generalversammlung: "Es erhielt sodann Professor v. Philippovich aus Freiburg das Wort zu einem allgemeinen Überblick über den Stand der kolonialen Unternehmungen. In seinem ebenso gehaltvollen wie durch die lebendige Darstellung fesselnden Vortrag gab derselbe ein anschauliches Bild unsres Kolonialbesitzes und der Aussichten für unsren dortigen Wirtschaftsbetrieb. Vorläufig könne man dabei nur an Handel und Plantagenbau denken; auch dürfe zunächst nicht an eine Verzinsung des von Deutschland in den Kolonien festgelegten Kapitals gerechnet werden. Es handle sich jetzt vor allem nur erst darum, die betreffenden Gebiete nach jeder Richtung hin zu erforschen, Stationen und, am besten von Reichswegen, Versuchsplantagen anzulegen. Jedenfalls stehe soviel fest, daß wir zu einer erfolgreichen Kolonialpolitik noch jung und kräftig genug seien, und daß wir genügende Kräfte in uns besäßen, um sie auch in weltwirtschaftlicher Hinsicht zu verwerten." (DKZ, Heft 10/1887, S. 292).

In seinem Vortrag ordnete er sich der Gruppe der "überzeugten Kolonialpolitiker" zu, "welche in unerschütterlichem Vertrauen auf den inneren Werth der Bewegung ihren ruhigen Gang gehen". Er wandte sich damit sowohl gegen Kolonialgegner wie auch gegen jene, die in Kolonialfragen „himmelhoch jauchzend“ seien. Er stellte fest, dass "manches Stück unsres Besitztums erst in das rechte Licht gerückt werden muß" (ebenda, S. 334). Weiter grenzte er sich von Positionen ab, wie sie teilweise von Sozialisten, Humanisten und Missionaren vertreten wurden. In seiner Ablehnung grundsätzlich gleicher Menschenrechte bemühte er sogar das Kannibalismus-Klischee: "Da muss ich denn freilich gestehen, daß ich auch mit jenen nicht diskutieren kann, welche in einem radikalen Utopismus das Prinzip der Gleichheit in allen politischen und sozialen Angelegenheiten mit uns Europäern Wesen gegenüber zur Anwendung bringen wollen, welche das Rasiren für einen Gottesdienst und die Herstellung der einfachsten Einrichtungen zur Erhaltung des Lebens für Zauberei halten. Und wenn wir uns selbst jenen Bewohnern einzelner Inseln der Südsee gegenüber nicht gehoben fühlen dürfen, welche uns bei sich ergebender Gelegenheit ohne Zaudern als einen Leckerbissen in ihre Kochtöpfe wandern ließen, dann vermag ich allerdings keinen Unterschied zwischen hoch und niedrig entwickelter Kultur mehr zu fassen. Es ist doch einfach thöricht, Menschen, welche nur die ersten Spuren einer sich entwickelnden Kultur an sich tragen, mit unsren deutschen Arbeitern zu vergleichen und für erstere Rechte in Anspruch zu nehmen, die die letzteren vermöge ihrer gesellschaftlichen Bildungsstufe verlangen können, die für jene aber nicht einmal die Bedeutung einer Zukunftsforderung haben, weil alle Voraussetzungen für ihre Durchführung fehlen." (S. 334f.).

In einem begrenzten Maße hielt Philippovich die "Zivilisierung der Eingeborenen" allerdings sowohl für möglich als auch für nötig, denn der Volkswirtschaftler hatte einiges mit ihnen vor: Die "Erziehung zur Selbstständigkeit" sei geboten durch "unser an das Vorhandensein konsumtionsfähiger Eingeborner geknüpftes Interesse". Die Kolonien sollten also als besonderes Absatzgebiet für deutsche Produkte dienen (nicht abgesetzt werden sollten neben Branntwein Gewehre mit Munition, da der Europäer mit Waffen auf das wichtigste Mittel verzichte, "seiner geistigen Überlegenheit unter Umständen auch den nötigen physischen Nachdruck zu verleihen", ebenda, S. 335) . Die 'Konsumtionsfähigkeit' der AfrikanerInnen sollte einerseits durch Weckung von Bedürfnissen und andererseits durch Erziehung zur Arbeit auf deutschen Plantagen hergestellt werden. Die "Arbeiterfrage" war seiner Meinung nach das wichtigste Problem in den Kolonien neben und in Verbindung mit der Klimafrage, denn eine größere deutsche Auswanderung in die eigenen Kolonien hielt er in absehbarer Zeit für unrealistisch. "Die Eingeborenen arbeiten ungern und unstät. Sie arbeiten, so lange irgend ein Bedürfnis sie treibt, sich von den Schätzen der Europäer etwas zu erwerben, und man kann nicht mehr mit Sicherheit daruuf [sic!] rechnen, die für den Plantagenbetrieb stets nötige Menge von Arbeitskräften zu erhalten. Hier kann nur eines helfen. Das Steigen des Bedürfnisstandes mit fortschreitender Zivilisation. In dem Maße, in dem der Verbrauch von Gütern größer und regelmäßiger wird, wird auch die Zahl der Arbeiter und die Dauer ihrer Arbeit wachsen, regelmäßiger und berechenbarer werden." (ebenda S. 335). Zur Frage, wie die Erziehung zur Arbeit in deutschen Diensten zu bewerkstelligen sei, plädierte er für große Machtfülle der Deutschen vor Ort: "Es gibt kein allgemein gültiges Schema für die beste und zweckmäßigste Behandlung von Menschen, hier müssen die konkreten Verhältnisse die Richtung bestimmen, welche in positiver Weise einzuschlagen ist. (...) Im übrigen aber überlassen wir es dem Ermessen der einzelnen Interessenten und Kolonialverwaltungen vorzugehen. Soll dennoch ein Prinzip festgesetzt werden, so möchte ich das von Schäffle aufgestellte annehmen, daß es sich nur um eine auto- und aristokratische, aber bestens bevormundende Verwaltung handeln könne." (ebenda).

Die Ziele und Bedingungen deutscher Kolonialpolitik fasste er so zusammen: "Erst aus der Fülle der Nation heraus, gestützt auf eine politische Macht, wie sie nur ein einiges Deutschland zu geben im stande war, konnte die Befriedung eines lang gehegten Wunsches erfolgen, und mit dem Bewußtsein, eine wichtige nationale Aufgabe zu erfüllen, gehen wir daran, die weltwirtschaftliche Stellung Deutschlands zu kräftigen. Das ist uns klar geworden, daß die Entscheidungen über die Geschichte der Völker heute nicht mehr in den Grenzen des alten Europas gefällt werden. Wir haben mit der Entwicklung der Dinge nicht zu rechten, und wenn es uns selbst die alte Gemütlichkeit im engen Kreise ans Herz gewachsen wäre, so müssen wir doch über unsre Grenzen hinaus in den Weltverkehr treten und die Bedingungen desselben so zu gestalten suchen, wie sie für uns am günstigsten sind. Darum ging unser Streben darauf hinaus, Kolonien zu erwerben, darum wollen wir das Erworbene festhalten und fördern, darum wollen wir eine Verbindung herstellen, die von Weltteil zu Weltteil sich schlingt und alle Deutschen auf der Erde zusammenfasst, zu gemeinsamer Arbeit an der Größe der Nation. Es ist eine gewaltige Aufgabe, welche jugendliche Kraft erfordert. Auf dürrem Holze würde solch junges Reis nicht wachsen, einem abgestorbenen Baume blüht eben kein Frühling mehr. Wir aber fühlen uns noch jung und stark, uns blüht der Frühling von neuem, seit wir uns in das Getriebe der Welt gestellt wissen, und darum lassen Sie uns alle Kraft zusammennehmen, damit diese Zeit der Kolonialpolitik nicht wie ein Blütentraum verwehe, sondern gesegnete Früchte trage zum Nutzen und zur Ehre des ganzen Volkes. (Lebhafter Beifall.)." (ebenda S. 339f.).

Auf der Dresdener Generalversammlung 1887 ging es zentral um die Fusion mit der 1884 von Carl Peters u. a. gegründeten "Gesellschaft für deutsche Kolonisation". Philippovich trat dort ebenso entschieden wie erfolgreich für die Fusion ein und teilte in der Diskussion mit, dass er auch Mitglied jener Organisation sei (ebenda, S. 354ff., siehe Artikel).

Darüber hinaus hatte die Freiburger Abteilung auf der der Generalversammlung vorangehenden Vorstandssitzung u.a. auch den Antrag gestellt, "Der Deutsche Kolonialverein wolle seinen Eintritt in den 'Allgemeinen Deutschen Verband' erklären, sich aber vorbehalten, nur zu Sitzungen, in welchen koloniale Fragen zur Entscheidung kommen, seine Vertreter zu senden." (DKZ, Heft 7/1887, S. 220f.). Dabei handelte es sich um den 1886 ebenfalls vom Kolonialisten Carl Peters gegründeten "Allgemeinen deutschen Verband zur Förderung überseeischer deutsch-nationaler Interessen", einem ideologischen und personellen Vorläufer des imperialistischen "Alldeutschen Verbandes" (siehe Polunbi, Wikipedia und Deutsches Historisches Museum). Philippovich zog den Antrag allerdings zugunsten eines Antrags des Präsidiums zurück, der nur die offene Bereitwilligkeit des Deutschen Kolonialvereins ausdrückte, in allen Sitzungen, in denen koloniale Fragen zur Entscheidung kämen, mitzuwirken und zu denselben "geeignete Herren zu deputieren" (ebenda).

Auch auf der Vorstandssitzung des Deutschen Kolonialvereins am 12.11.1887, abgehalten im Konferenzzimmer des Architektenhauses zu Berlin, nahm Philippovich als Vertreter der Freiburger Abteilung teil (DKZ, Heft 22/1887, S. 701). Und auch hier ging es u.a. um die Vereinigung mit der Gesellschaft für deutsche Kolonisation. Die Freiburger Abteilung hatte zur Neuorganisation des Vereins im Juni 1887 eine Denkschrift eingebracht, die auf dieser Versammlung besprochen wurde. Die von ihrem Schriftführer von Hillern-Flinsch unterzeichnete Denkschrift ist hier dokumentiert: Weiter.


Zum Seitenanfang


3. Aktivitäten als 1. Vorsitzender in Freiburg

Er wurde dann am 11.07.1888 zum ersten Vorsitzenden der oberbadischen Abteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft in Freiburg gewählt, in die der Kolonialverein nach der Fusion übergegangen war (siehe Deutsche Kolonialzeitung, Heft?/1888, S. 239). Diese leitete er mehrere Jahre, nachgewiesen ist dies bis 1892 (siehe Bundesarchiv, R 8023 / 732, Paginierung 7 sowie Einwohner-/Adressbücher der Stadt Freiburg dieser Jahre). Möglicherweise kommen ein bis zwei Jahre danach dazu (bis Mitte 1888 nahm den Posten der Bankier Julius Mez ein, der eine Wiederwahl ablehnte, und ab 1895 der Freiburger Geograph Prof. Neumann, die Lücke ist noch ungeklärt).

Eugen von Philippovich befasste sich intensiv mit Fragen des deutschen und des britischen Kolonialismus. Dies zeigt sich schon anhand der 28 Bücher (!), die er allein in einer zweiteiligen Sammelrezension verarbeitete (Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Johannes Conrad (Hrsg.), Band 16 (Neue Folge), Jena 1888, S. 47-55 und 171-183, siehe: Volltextdokumentation). Er schreibt darin: "Die Handelskolonisation unserer Städte im Mittelalter und die ersten Versuche einer überseeischen Kolonisation in Venezuela, Westafrika und Ostindien schließen sich hieran an, als Zeugen des Bestrebens, die Kraft des eigenen Volkstums auch über den Grenzen des Reiches zur Geltung zu bringen." (S. 171). "Kolonien hatten die Deutschen bisher nicht gebildet, als Kolonisten waren sie stets geschätzt, höher als die Kolonien bildenden Engländer. Daß diese kolonisatorische Thätigkeit nach Herstellung eines mächtigen deutschen Reiches ihren kosmopolischen Charakter verlieren mußte, ist so natürlich, daß man sich verwundern muß, wie geistreiche Männer in der jüngsten kolonialen Bewegung in Deutschland etwas Künstliches, Vorübergehendes erblicken können. Sie scheint mir im Gegenteil im hohen Maße aus der Vergangenheit des deutschen Volkes herausgewachsen und der Richtung der allgemeinen Staatsentwicklung unserer Zeit angepaßt zu sein. Denn neu ist an ihr nur, daß eine deutsche Staatsgewalt die Erfolge deutscher Kolonisten schützt. Was die einzelnen in unseren Kolonien thun, Handels- und Plantagenbetriebe organisieren, das haben Deutsche schon seit längst vergangenen Zeiten in aller Herren Länder und in aller Herren Dienste gethan. Es fehlte nur die Vereinigung dieser in die Ferne schweifenden Kräfte in deutsche Kolonien, der regelmäßige Wiederersatz derselben Arbeit; es konnte sich keine Tradition bilden. So kommt es, daß die Deutschen seit langem kolonisiert haben und sich doch in Deutschland nur geringe koloniale Erfahrung angesammelt hat. An die Stelle der Planlosigkeit der Vergangenheit tritt jetzt Ziel und Ordnung und das Streben nach wirtschaftlichem Gewinn verbindet sich mit dem Gedanken, daß man einen Besitz zum dauernden Vorteile der Nation erwerbe. Dieses Zusammenschließen der Volkskräfte in einer Frage, die bisher als eigenste Angelegenheit des einzelnen angesehen wurde, mag unerwartet gekommen sein, allein ist es weder künstlich, noch wird es etwas Vorübergehendes sein." (S. 172).

In der Sammelrezension befasst er sich auch mit Fragen der Auswanderung in eigene Kolonien und andere Staaten: "(...) das Gesamtinteresse scheint mir zu fordern, daß man in Gebieten, über welche die Souveränität des Kaisers (...) proklamiert ist, jedem Reichsbürger die Freiheit der Ausnützung herrenloser Gebiete offen halte (...) Die durch die Erwerbung der deutschen Schutzgebiete veranlaßte Handels- und Produktionsthätigkeit wird unzweifelhaft zahlreiche Interessen in Deutschland fördern, mancher Kraft Gelegenheit zur Entfaltung geben und in viele Kreise Wohlstand bringen." (S. 183). "Eine richtige Auswanderungspolitik ist die notwendige Ergänzung unserer Kolonialpolitik. Es wird stets ihr Segen bleiben, daß sie Tausenden, welchen die Heimat nur noch Hoffnungslosigkeit zu bieten hatte, zu eigenem Besitz und froher Selbständigkeit zu verhelfen vermag." (S. 185). In diesen Aussagen zeigt sich deutlich Philippovichs Ansatz, nationale Integration durch eine Kombination aus Integration der unteren Schichten, Kolonialismus und Deutschtumspolitik anzustreben.


Zum Seitenanfang


4. Auswanderung und Deutschtumspolitik

Die Frage des "Deutschtums im Ausland" beschäftigte den Sozialwissenschaftler Philippovich auch in der folgenden Zeit. Im Berliner Bundesarchiv findet sich in den Akten der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG) ein handschriftlicher Antrag der von Philippovich geführten Freiburger Abteilung (Bundesarchiv R8023-698, Paginierung 12). Er lautet:

"Vorstandssitzung am 9. November 1891. Antrag der Abteilung Freiburg i.Br. Der Vorstand wolle beschließen:

  1. Es möge in den Etat für 1892 eine Summe eingestellt werden zur Veranstaltung von Erhebungen über die Organisation und Wirksamkeit der Auskunftsämter für Auswanderer in England, Belgien und in der Schweiz.
  2. Es möge der Generalsekretär der Deutschen Kolonialgesellschaft mit der Vornahme dieser Erhebungen an Ort und Stelle sowie damit beauftragt werden, über das Ergebnis seiner Erhebungen Bericht und einen Vorschlag zu erstatten, durch welche Mittel die Tätigkeit des Auskunftsamtes der Kolonialgesellschaft nach dem Vorbilde der genannten Anstalten verbessert und erweitert werden könnte."

In der Deutschen Kolonialzeitung, dem Organ der DKG, veröffentlichte er im Folgejahr einen Artikel mit dem Titel "Das Reichsgesetz über die Auswanderung".

DKZ

Geplant war dazu auch ein Referat bei der Hauptversammlung der DKG am 26.3.1892. In dem von seinem sozialdarwinistisch gefärbten Nationalismus geprägten Artikel schreibt er u.a.: "Das Deutschtum auf der Erde hat wiederholt Zeichen gemeinsamen Fühlens und Empfindens gegeben; das Verlangen nach verbindenden Organen ist sichtlich gewachsen; unsere Auswanderung ist gestiegen und ringt im Norden und Süden Amerikas mit fremdnationalen Elementen, mit wirtschaftlichen und rechtlichen Schwierigkeiten. (...) Aus der Geschichte überzeugen wir uns, daß kräftige und lebensfähige Völker zu allen Zeiten nicht blos intensiv, sondern auch extensiv thätig gewesen sind. (...) Ihre Wanderungen haben den Fortschritt der Kultur beschleunigt (...), aber sie waren auch stets das Mittel, einzelnen Völkern eine besondere Machtstellung zu verschaffen. Nur einem solchen Volke ist eine führende kulturelle und politische Stellung dauernd verblieben, das neben hoher Kultur und fester staatlicher Organisation auch eine starke Ausdehnungsfähigkeit besaß. (...) Deutschlands Weltstellung heben und seine Auswanderung nicht heben wollen, ist ein Widerspruch, der durch keine Rhetorik zu überdecken ist." (Deutsche Kolonialzeitung, Heft 3/ 5. März 1892, S. 31ff., Artikel). Im selben Jahre erschien das von ihm im Auftrage des Vereins für Socialpolitik herausgegebene Buch "Auswanderung und Auswanderungspolitik in Deutschland: Berichte über die Entwicklung und den gegenwärtigen Zustand des Auswanderungswesens in den Einzelstaaten und im Reich". Sicher ist darüber hinaus, dass er in politisch-publizistischen Fragen mit dem prokolonialen Freiburger Altertumsforscher und Funktionär des Vereins für das Deutschtum im Ausland, Prof. Ernst Fabricius, in Kontakt stand.


Zum Seitenanfang


5. Dokumentation

Wir dokumentieren hier eine weitere aus seiner Freiburger Zeit stammende Rezension eines Buches von Karl Peters, einem der - im negativen Sinne - schillerndsten Protagonisten des deutschen Kolonialismus (siehe den Beitrag zu Peters auf afrika-hamburg.de). Auch diese Rezension, in der er von den Aufgaben "unserer Kolonialbewegung" schreibt, erlaubt einige Rückschlüsse auf das Denken von Philippovich. Sie ist erschienen in: Gustav Schmoller (Hrsg): Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich, 11. Jg. (1887), S. 1336-1338.

34. Peters, Dr. Karl: Deutsch-national. Kolonialpolitische Aufsätze. Berlin 1887, Walther & Apolant.

Wer die deutsche Kolonialbewegung der Gegenwart und die sich in ihr vereinigenden Interessen verfolgt, wird nach gehöriger Würdigung aller besonderen Triebkräfte noch einen unaufgelösten Rest finden, der allein geeignet ist, ihre Lebhaftigkeit zu erklären. Unser Interesse, überseeische Rohstoffe und tropische Produkte unter möglichst günstigen Bedingungen zu erhalten und Absatzgebiete für unsere Erzeugnisse zu finden, ist sicherlich ein großes. Allein es war lange vorhanden, ohne daß die in dieser Richtung Thätigen, vor allem die großen Handelshäuser unserer Seestädte, eine Kolonialbewegung eingeleitet hätten. Mächtig hat hier erst jenes Moment gewirkt, das wir als den nationalen Sinn eines Volkes bezeichnen, wobei wir in diesem Ausdrucke alle jene Neuerungen zusammenfassen, die auf dem Bewußtsein der Selbstständigkeit und Eigenart des Volkes und dem Streben beruhen, sich selbst zur Geltung zu bringen: Ehrgeiz, das Verlangen, es dem anderen vorzuthun, seine Macht zu erweitern, der Drang, überschüssige Kräfte anzuwenden, der Wunsch, alle auf der Erde zersprengten Teile des eigenen Volksthums zusammenzuhalten, die staatliche,

[Wechsel auf Seite 1337]

sprachliche und damit kulturelle Selbstständigkeit der Nation durch Sicherung materieller Macht zu schützen usw. Alle diese Momente bilden den breiten Hintergrund unserer Kolonialbewegung und geben ihr jenen ideologischen Anstrich, der oft – und in der That nicht immer ohne Grund – den Anschein erweckt, als ob wir es hier mit einer Gefühlsbewegung zu tun hätten, die rasch vorübergehen könnte. Sollen diese Regungen des Volksganzen nicht in tönenden Biertischreden ihr klägliches Ende finden, dann bedarf es der Aufstellung positiver Aufgaben, deren Erfüllung vom Selbstinteresse besorgt werden kann, hier aber zugleich als nationale Pflicht empfunden wird. In diesem Punkte treffen die mannigfachen materiellen Interessen, die mit der Kolonialpolitik verbunden sind, und jene ideellen Regungen der Volkspsyche zusammen. Nicht unsere wirtschaftlichen, unsere nationalwirthschaftlichen Bedürfnisse haben uns in die Kolonialpolitik getrieben.

Niemand hat diesen Gedanken klarer und schärfer ausgesprochen als der Verfasser der oben aufgeführten kolonialpolitischen Aufsätze. Derselbe ist genugsam bekannt durch die Gründung der Gesellschaft für deutsche Kolonisation, seinen Zug nach Ostafrika, die Erwerbung des Grundstockes des dortigen Kolonialgebietes und seine von Erfolg gekrönten Bemühungen, für diese Kolonie deutsches Kapital flüssig zu machen. Ungefähr ein Drittheil des Buches schildert uns die Entwicklungsgeschichte der ostafrikanischen Kolonie. Eine Reihe von anderen Aufsätzen ist der Bedeutung dieser Kolonie, den Aufgaben, welche der ostafrikanischen Gesellschaft obliegen, der Stellung, welche das Unternehmen in der öffentlichen Meinung Deutschlands einnimmt, der Polemik wider die Gegner desselben gewidmet.

Immer und überall aber klingt der Gedanke durch, der in dem weiteren Drittheile der Aufsätze und des Buches selbstständig behandelt wird: daß nur die Erstarkung des nationalen Selbstgefühles in unserem Volke die in ihm liegenden Kräfte zur vollen Entwickelung bringen könne und daß diese vollständige Entfaltung des Deutschtums nothwendigerweise einen energischen Wettbewerb in der Weltwirtschaft und in dem Streben nach Weltherrschaft mit sich bringen müsse. Die Kolonialbewegung ist daher nicht nur eine aus planmäßiger Ueberlegung unserer Interessen hervorgegange wirthschaftliche Bewegung, sondern das natürliche Produkt unserer ganzen Volksentwicklung, welche in Volkswirtschaft, Politik und sozialem Leben nach immer größerer Machtentfaltung dränge. „Die deutsche Kolonialbewegung ist die natürliche Fortsetzung der deutschen Einheitsbestrebungen. Es war nur natürlich, daß das deutsche Volk, nachdem es seine europäische Machtstellung auf den Schlachtfeldern von Königgrätz und Sedan emporgerichtet hatte, sofort das Bedürfniß empfand, nunmehr auch der elenden und zum Theil geradezu verächtlichen Stellung unserer Nation jenseits des Weltmeeres ein Ende zu machen, und zu gleicher Zeit theilzunehmen an den Vortheilen materieller Art, welche eine Herrschaftsentfaltung im großen Stile noch zu allen Zeiten geboten hat.“

Unbewußt drängen in jedem noch in aufsteigender Entwicklung befindlichen Volke die einzelnen Elemente nach Machterweiterung in allen Richtungen. Das ist nicht ein Zug, den wir hemmen, sondern ein solcher, den wir nur leiten können. Entbehrt ein Volk des nationalen Bewußtseins, der starken staatlichen Führung, dann fließt der Gewinn derartiger Kräfteanspannungen fremden Völkern und Staaten zu und kein Volk ist so unverwüstlich, daß es solchen Kräfteabfluß auf die Dauer ertragen könnte. Ein solches Volk muß zu Grunde gehen. Sollen die Deutschen vor diesem Schicksale bewahrt bleiben, dann müsse ihre Kraftentfaltung einen nationalen Charakter erhalten. Sowohl die Herstellung des Zusammenhangs der auf dem Erdball in fremden Staatswesen zersprengten Elemente des Deutschthums wie die lokale Konzentration neu abfließender Volkskräfte sei die Aufgabe einer überseeischen und Kolonialpolitik des Reiches, die nur durch Erweckung deutsch-nationalen Fühlens gelöst werden könne.

Dies ist der Grundgedanke der Peterschen Aufsätze. Sie erhalten allerdings keine systematische Durchführungen desselben, aber unermüdlich bestrebt sich der Verfasser, das Prinzip „in den bewegten Gegensätzen der flüchtigen Tagespolitik“ zu begründen und zur Geltung zu bringen. Und zweifellos ist eine Hervorkehrung des nationalen Gedankens als wirksamste Kraft der Kolonialpolitik berechtigt. Es kommt nur darauf an, was man unter nationalem Sinn

[Wechsel auf Seite 1338]

verstehen zu müssen glaubt. Eitles Selbstgefallen, Anmaßung, Zurückweisen fremd-nationaler Errungenschaften erzeugen keine Fortschritte im Volksleben. Aber Sammlung und Werthschätzung der eigenen Kräfte, bewußte Vereinigung derselben zu einer das eigenen Volksthum fördernden Arbeit, Zurückweisen unberechtigten fremd-nationalen Einflusses, kurz ein Sich-besinnen auf eigenes Können und Verwerthung desselben im Dienste des eigenen Wollens, das ist berechtigter nationaler Sinn, wie er noch zu allen Zeiten sich den Völkern als nützlich erwiesen hat.

Professor v. Philippovich


Zum Seitenanfang


6. Dokumentation

(Hinweis: aus dem folgenden Originalbeitrag werden nur jene Passagen dokumentiert, in denen Philippovich aus der Analyse der englischen Kolonialvereine Schlüsse für die Deutschen zieht bzw. sich anderweitig auf die deutsche Kolonialbewegung bezieht).

Deutsche Kolonialzeitung, Artikel über drei Ausgaben verteilt im Jahr 1888, S. 258-260 (33); S. 285-287 (Nr. 36) und S. 293-295 (Nr. 37)

[I. Teil, S. 258-260]

Englische Kolonialvereine

Von Prof. Eugen von Philippovich (Freiburg i.B.).

Wenn in Vereinen die uninteressierte Ruhe der Normalzustand wird, der nicht mehr von innen heraus, durch stille gleichförmige Erfüllung einer selbstgewählten Aufgabe Leben und Bewegung verrät, sondern nur durch einen starken Anstoß von außen und unter Aufwand aller Reizmittel geändert werden kann, dann ist dies stets ein Zeichen dafür, daß sie nicht mehr das Bewußtsein einer bestimmten Aufgabe, die sie erfüllen können, in sich tragen. Manche Pessimisten haben den Kolonialvereinen nachgesagt, daß sie nach Gründung der Erwerbsgesellschaften mangels einer selbstständigen Aufgabe in einen solchen Zustand verfallen müßten. Ich will hier nicht in die Reihen jener treten, welche oft und eindringlich und mit verständlichen Gründen darauf hingewiesen haben, daß die Kolonialvereine keineswegs aufgehört haben, nützlich zu sein, weil sich Erwerbsgesellschaften gefunden haben, um die deutschen überseeischen Besitzungen wirtschaftlich nutzbar zu machen. Ich will nicht aus dem Wesen der kolonialen Entwicklung und der Ausbreitung des Deutschtums in überseeischen Gebieten heraus auf die Fülle von einzelnen Zwecken verweisen, welche durch Vereine verfolgt werden können. Es spricht ja jede Seite der Kolonialzeitung durch Hervorhebung beachtenswerter Thatsachen in überzeugender Weise. Ich möchte nur die Aufmerksamkeit

[Seitenumbruch von 258 auf 259]

der Leser dieser Zeitschrift auf Bildungen ähnlicher Art in England lenken. Vielleicht wird die Beobachtung uns nützlich sein, daß auch in England, dessen Bürger mit großen Vermögen und unter Gefährdung von Leib und Leben und wirtschaftlicher Existenz an der Bildung und Entwicklung von Kolonien sich beteiligten und noch beteiligen, dessen Parlament bedeutende Lasten im Interesse der wirtschaftlichen und nationalen Entwicklung Englands über See immer auf sich genommen hat und zu übernehmen bereit ist, dessen Kolonien schon längst nicht mehr der Führung durch das Mutterland und am allerwenigsten für ihre Entwicklung der Unterstützung von Vereinen bedürftig sind, daß auch in diesen kolonialerfahrenen England Kolonialvereine thätig sind, welche sich in ihrer Aufgabe kaum von den deutschen Vereinen gleicher Art unterscheiden. (...) [weiter auf Seite 260] Ein Vergleich des Colonial Institute mit der Deutschen Kolonialgesellschaft braucht nicht zu Unguusten [sic!] der letzteren auszufallen. Die Kolonialgesellschaft besitzt im Vorstande zu Berlin jene Leitung, welche das Wesen des Colonial Institute ausmacht. Sie besitzt aber noch mehr. Sie besitzt in den über das Reich ausgebreiteten Zweigvereinen eine Organisation, die jede Maßnahme, welche die Leitung vorzunehmen beabsichtigt, kräftig zu unterstützen vermag. Es wird daher dem Vorstande der Kolonialgesellschaft zufallen, in gleicher Weise, wie das Colonial Institute die Interessen der englischen Kolonialpolitik aufmerksam verfolgt, so die Interessen der deutschen Kolonialpolitik zum Gegenstand seiner Sorge zu machen. Und ich will nicht gesagt haben, daß er dies nicht thue.

[II. Teil, in DKZ Nr. 36, S. 285-287]

(…) [weiter auf S. 287] Mancher Leser mag dieser kurzen Schilderung der Organisation und Zwecke der Imperial Federation League kopfschüttelnd gefolgt sein und die frage aufgeworfen haben: „Was soll das uns? Ein solcher Verein mag in England seine Berechtigung haben, aber was sollen wir daraus lernen, die wir nur einige Tropenkolonien besitzen, deren Beziehungen zu Deutschland ja staatsrechtlich und privatrechtlich bereits leidlich geordnet sind?“ Wem diese Fragen nahe liegen möchten, den bitte ich, für einen Augenblick von den einzelnen Zwecken, welche der Verein verfolgt, abzusehen und den tiefer liegenden Grund dieser Vereinsbildung ins Auge zu fassen. Handelsverbindungen, einheitliche Zölle, Posten, Telegraphen, Reichsflotten, Reichsparlamente, und was die Imperial Federation League sonst noch anstreben mag, diese Ziele sind ja doch alle nur Ausdruck des einen Wunsches, die Nationaleinheit der Briten nicht in den wirtschaftlichen und politischen Interessenbewegungen der Völker der Erde untergehen zu lassen. „Britons, hold your own“ tönt es in Tennysons Ode. Briten, sichert euren Besitz. Mit Gewinn und Verlust der Kolonien steht das britische Volkstum in Frage. Und dieses regsame Streben nach Sicherung nationalen Besitzes, das sollte uns nicht eine Lehre sein können? Ruhen unsre Kolonialvereine nicht auf derselben nationalen Grundlage und müssen sie darum nicht auch über Kaffee- und Tabakplantagen hinaus ihre Ziele suchen? Gerade das sichert ihnen die allgemeine Teilnahme, daß sie die Verbindung der Deutschen auf der Erde herzustellen sich bemühen. Und das zum mindesten müssen wir aus der Imperial Federation League lernen, daß selbst eine Weltnation, wie die Briten, heute nicht mehr auf eine Organisation ihrer Teile verzichten kann. Um wie viel weniger können wir es, die wir erst eine Weltnation werden wollen.

[III. Teil, DKZ, Nr. 37, S. 293-295]

3. Auswanderungsvereine

Alle Kolonisationsbestrebungen müssen zu einer Ordnung und Leitung der Auswanderung führen. Die Wanderbewegungen der Völker sind es ja, welche wir in den Koloniengründungen zu verfolgen haben. Sollen die letzteren nicht mehr an den zufälligen Regungen des Interesses Einzelner allein überlassen bleiben, sondern als bewußte, planmäßig vorausbedachte That des Volkes erscheinen, so ist eine notwendige Bedingung die, daß auch die Auswanderung jenen Plane gemäß geleitet werde. In gleicher Weise wird die Wanderung der Volksteile die Aufmerksamkeit und Sorge derjenigen erregen müssen, welche nicht an der Gründung neuer Kolonien, sondern an die engere Zusammenfassung der gegebenen überseeischen Besitzungen denken. ( …) Noch in einer Richtung endlich vermag die Auswanderung das Interesse der Volksgenossen zu erwecken: in rein menschlicher Hinsicht. Das Aufgeben sozialer Beziehungen, die durch Gewöhnung von Jugend auf und Überlieferung älterer Geschlechter unser geistiges Leben gebildet haben, schwächt die Kraft des Auswanderers, und die Notwendigkeit, alles das, was man in der Heimat verlassen, auf fremden Boden, inmitten fremder Umgebung, neu zu schaffen, stellt gerade in diesem Augenblick die höchste Forderung an ihn. Es ist eine Pflicht der Menschliebe, hierbei den Hilflosen zu unterstützen, den Schwachen zu stärken, der Gesamtheit zu helfen, Hindernisse aus dem Wege zu räumen, deren Bewältigung von ihrer Seite unverhältnismäßigen Aufwand an Kraft und Zeit und Vermögen erfordert, den Vertrauten aber mit leichter Mühe gelingt. Auch hier kann noch zu dem allgemein menschlichen ein nationales Interesse treten, wenn wir uns bemühen, in dem Auswanderer den Stammesgenossen zu unterstützen und zu erhalten. Aus diesen Erwägungen ergibt sich, daß die Auswanderung nach zwei Seiten hin Gegenstand planmäßiger Vereinsthätigkeit werden kann. Das eine Mal wird die Auswanderung als gegeben Thatsache hingenommen und man versucht, das Geschick der Einzelnen zu bessern. Die Auswanderungsvereine sind hier eine besondere Art von Wohlthätigkeitsvereinen, von sozialen Hilfsvereinen, die in größerem oder geringerem Maße auch das nationale Moment pflegen. Das andere Mal wird die Auswanderung benutzt, um in fernen Gebieten geschlossene Siedlungen durch Volksgenossen zu stande zu bringen und planmäßig zu kolonisiren. Was hier dem Einzelnen zu gute kommt, bringt Früchte, die in letzter Linie künftigen Geschlechtern des ganzen Volkes zum Nutzen gereichen. Hier mag die Auswanderung selbst angeregt werden, wenn sie, wie im Falle Englands und seiner überseeischen Gebiete, den Charakter innerer Kolonisation annimmt. Früher oder später wird ohnedem das unterstützende Eingreifen des Staates gefordert werden; es sind nicht mehr blos soziale Hilfsvereine, die hier thätig sind, vielmehr Verwaltungsvereine, welche die Erfüllung einer Staatsaufgabe vorwegnehmen. ( …)

[weiter auf S. 295] Eine ähnliche Stellung wie England vermag kein europäisches Volk seiner Auswanderung gegenüber einzunehmen. Keines vermag sie als einen Prozeß innerer Kolonisation aufzufassen. Und dennoch werden Völker mit starker Auswanderung, insbesondere die Deutschen, auch hier aus dem Zustand der Gleichgiltigkeit [sic!] zu einer positiven Politik übergehen müssen. Es ist nicht nur ein weites Feld für Vereine in der Richtung sozialer Hilfsthätigkeit gegeben, das aus reiner Menschenliebe gepflegt werden sollte. Es handelt sich für Volk und Regierung darum, die mit natürlicher Gesetzmäßigkeit vor sich gehende Auswanderung zum Besten der Nation zu leiten.

Deutschland hat keine Kolonien, welche die Auswanderung aufzunehmen vermöchten. Aber ganz Südamerika ist kolonisationsbedürftig, und jeder der südamerikanischen Staaten ist bereit, tüchtige Kolonisten aufzunehmen. Das Gespenst, daß Deutschland in Südamerika deutsche Kolonien erwerben wolle, werden jene Staaten nicht lange mehr fürchten. Warum sollte ihnen von Deutschland eine größere Gefahr für ihre Unabhängigkeit drohen, als von Italien? Warum sollten sie die Deutschen mehr fürchten als das ländergierige England, in dessen Sprache argentinische Agenten zur Auswanderung nach Argentinien auffordern? Gerade in dem gegenwärtigen Augenblicke, in welchem die romanischen Staaten Italien, Spanien, Portugal mit Deutschland freundschaftlich verbunden sind, werden auch die Romanen in Südamerika wieder die richtige Werthschätzung für deutsche Kolonisten erhalten. Jene haben Land, wir haben Volkskraft im Überfluß. Wir wollen Verbindungen eingehen ohne politische Hintergedanken, weil die Lebensbedingungen für unsre Auswanderer in physischer wie in nationaler Beziehung daselbst günstige sind, jene können darauf eingehen, weil sie die besten, politisch zuverlässigsten Kolonisten erhalten, welche die Erde zu geben vermag. Und darum wird die Zeit kommen, in welcher auch die deutsche Regierung ihre überlieferte Scheu vor positiver Behandlung der Auswanderung verlieren und den Deutschen über See die besten Bedingungen ihrer Existenz zu gestalten suchen wird. Einstweilen aber ist hier für Vereine ein ereiche Fülle von Aufgaben gestellt. Möchten die wenigen Gesellschaften, die bereits an der Arbeit sind, die gebührende Unterstützung finden und neue Vereinigungen entstehen, damit wir nicht auf diesem wichtigsten Gebiete hinter den Bestrebungen der Engländer zurückbleiben.


Zum Seitenanfang


7. Literaturangaben

- hier relevante Publikationen von Eugen von Philippovich (chronologisch):

  • Allgemeiner Überblick über den Stand der kolonialen Unternehmungen“, Vortrag gehalten auf der vierten ordentlichen Generalversammlung des Deutschen Kolonialvereins am 6.5.1887 in Dresden, Deutsche Kolonialzeitung (Organ des Deutschen Kolonialvereins), IV. Jahrgang, Heft Nr. 11, 1887, S. 333-340;
  • "Peters, Dr. Karl: Deutsch-national. Kolonialpolitische Aufsätze. Berlin 1887", in: Gustav Schmoller (Hrsg): Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich, 11. Jg. (1887), S. 1336-1338.;
  • Englische Kolonialvereine, Deutsche Kolonialzeitung, Artikel über drei Ausgaben verteilt im Jahr 1888, S. 258-260 (Nr. 33); S. 285-287 (Nr. 36) und S. 293-295 (Nr. 37);
  • Neuere Litteratur über Kolonien und Kolonialpolitik. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Johannes Conrad (Hrsg.), Band 16 (Neue Folge), Jena 1888: Verlag von Gustav Fischer. Seite 47-55 und 171-183;
  • Das Reichsgesetz über die Auswanderung, Deutsche Kolonialzeitung, 5. Jahrgang, Heft Nr. 3, 5. März 1892, S. 31-33;
  • Auswanderung und Auswanderungspolitik in Deutschland: Berichte über die Entwicklung und den gegenwärtigen Zustand des Auswanderungswesens in den Einzelstaaten und im Reich / im Auftr. d. Vereins für Socialpolitik hrsg. von Eugen von Philippovich. - Leipzig : Duncker & Humblot, 1892. - XXXIII, 479 S.;

- Bücher von Eugen von Philippovich in der Universitätsbibliothek Freiburg Weiter


Zur Übersicht Personen | Zum Seitenanfang