logo

Pressedokumentation auf www.freiburg-postkolonial.de

Reichstagsrede des neuen Kolonialdirektors Dernburg

Freiburger Zeitung, 01.12.1906, 2. Blatt, 1. Seite

Der Reichstag und die Kolonien. Berlin, 29. November.

Die Kolonialdebatte wurde heute fortgesetzt. Der Zudrang des Publikums auf den Tribühnen war eben so stark wie gestern. Unter den Zuhörern befinden sich auffallend viele Offiziere der verschiedensten Waffengattungen; am Bundesratstische ist das Tuch der Schutztruppenoffiziere vorherrschend, deren mehr anwesend sind als Geheimräte der Kolonialabteilung. Der aufmerksamste Zuhörer im ganzen Hause ist zweifellos der neue Kolonialdirektor Dernburg; meistens steht er auf der obersten Stufe der Treppe, die zur Rednertribüne führt, mit dem Rücken an den Treppenpfosten gelehnt, die Arme über der Brust gefaltet, mit gespannter Aufmerksamkeit den Ausführungen des Redners folgend, oft auch, wenn sich der Redner an ihn wendet, gibt er durch Nicken oder Schütteln des Kopfes Zustimmung oder Mißbilligung zu erkennen.

Als erster Redner sprach heute der Kolonialreferent der Nationalliberalen, Abg. Dr. Semler, der privatim eine Reise nach Südwestafrika unternommen hatte, um die Kolonie aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Der Redner führte aus: Von echt kaufmännischer Art erfüllt, nicht durch kluge Reden, aber durch kluge Handlungen habe sich der Kolonialdirektor eingeführt, dem seine Partei vollends vertrauen entgegenbringe. Zu bemängeln sei, daß die Militärlasten in der Denkschrift nicht berücksichtigt seien. Dies sei geschehen, weil man sonst ein so trauriges Bild bekommen hätte, daß weitere Mittel nicht bewilligt worden wären. Für eine solche Politik seien seine Freunde nicht zu haben. Redner geht dann auf die Einzelheiten der Denkschrift ein. Die Bahnlinie Kubub-Keetmanshoop sei erforderlich zur Haltung des Südens. Nach dem Niederwerfen des Aufstandes müsse man an die Aufschließung des Landes gehen, die nur durch Eisenbahnbauten möglich sei.

Abg. Richthofen (kons.) spricht dem Reichskanzler seinen Dank aus für die warme Inschutznahme der Beamten. Der Firma Tippelskirch könne man vom re cht lichen und vom kaufmännischen Standpunkt aus keine Vorwurf machen. Die Leistungen der Firma Woermann und Lenz verdienen höchste Anerkennung. Vor einer uferlosen Eisenbahnpolitik müsse gewarnt werden. Der Ausbau des Bahnnetzes müsse nach und nach erfolgen. Dem neuen Kolonialdirektor stehen wir mit Vertrauen gegenüber.

Nun ergriff Kolonialdirektor Dernburg das Wort, um auf einige in der bisherigen Debatte gestellten Anfragen und Angriffe zu antworten. Er dankte zunächst für die zahlreichen Ausdrücke des Wohlwollens und wendete sich gegen die maßlosen Angriffe Ledebours. Er erklärte, daß die Denkschriften vielfach einer mißverständlichen Auffassung begegnet sind; diese sollen kein Programm, sondern Bausteine zu einem Programm darstellen. Das erste Ziel einer erfolgreichen Kolonialpolitik müsse die finanzielle Selbstständigkeit der Kolonien sein. Aus der finanziellen ergebe sich von selbst die administrative und wirtschaftliche Selbstständigkeit. Im Übrigen hat auch der „neue Mann“ der Kolonialabteilung bereits am eigenen Leibe erfahren, daß die besten Vorsätze gegen zwingende Verhältnisse nicht ankommen können. Dernburg wies darauf hin, daß er sich zur Pflicht gemacht habe, sämtliche Eingänge selbst zu lesen. Bei durchschnittlich 60 000 Eingängen im Jahre habe ihn dieses 18 Stunden am Tage festgehalten. Daß er sich daneben nicht auch noch mit administrativen, legislativen und volkswirtschaftlichen Problemen befassen könne, das sei wohl erklärlich, und von dem Augenblick an, wo er hier im Reichstage Rede und Antwort stehen müsse, sei natürlich auch die vorerwähnte Anordnung in Scherben gegangen. Auf den Vorwurf des Abgeordneten Semler, daß das Kolonialamt nicht anstelle der Forderung einer eigenen Eisenbahnlinie ein vollständiges Eisenbahnprogramm vorgelegt habe, erwidert Dernburg, daß es ganz unmöglich gewesen sei, in den zwei Monaten, die er im Amt wäre, ein Eisenbahnprogramm für ein Land auszuarbeiten, das zweimal so groß sei wie Deutschland. Er habe das Amt in der Hoffnung übernommen, etwas aus den Kolonien machen zu können. Diese Hoffnung habe er noch. Ein Programm der wirtschaftlichen Erschließung lasse sich vor zwei Monaten nicht machen; dazu müsse man das Land kennen. Gouverneur v. Lindequist werde dem Hause selbst berichten. Man müsse dem Fiskus der Kolonien Einnahmen verschaffen. Eine Vorlage über die Entschädigung der Ansiedler werde dem Hause demnächst zugehen. Die Befürchtung, daß dem deutschen Handel einmal alle Gebiete der Kolonien verschlossen sein würden, ist nicht berechtigt, dazu ist der deutsche Handel zu aktiv, die deutsche Produktion zu gut. (Beifall.) Eine Kodifizierung des Eingeborenenrechts sei unbedingt erforderlich. Die Eisenbahnen müssen von Staatswegen gebaut werden, da sie immer monopolartig sind. Mit Privatmonopolen haben wir bisher sehr schlechte Erfahrungen gemacht. (Beifall.) Dem von der konservativen Seite geäußerten Wunsch, das deutsche Kapital möchte sich in größerem Umfange an den kolonialen Unternehmungen beteiligen, hielt Dernburg die Tatsache entgegen, daß das Kapital im Inlande zu außerordentlich guten Zinssätzen Verwendung finde und daß die deutschen Kapitalisten deshalb kein Interesse daran hätten, ihr Geld in ebenso unsicheren wie wenig rentablen kolonialen Unternehmungen anzulegen.

Abg. Kopsch (fr. Vg.) wendet sich gegen Dr. Semler. Ihm stehe die Autorität des Generalstabs doch höher. Der Vorwurf des Undankes gegen die Truppen in Südwestafrika sei nicht berechtigt. Erzberger sei man dankbar für die Aufdeckung der Kolonialskandale. Nicht die Aufdeckung der Skandale, sondern die Skandale selbst haben Deutschland geschadet. Welche Eingeborenenpolitik gedenkt der neue Kolonialdirektor zu befolgen? In der Denkschrift zeige sich, wie schnell sich der Kaufmann in den Diplomaten verwandelt habe. Der Redner kritisiert dann die Denkschrift. Eine phantastische Politik wollen wir nicht mit Rücksichtnahme auf den Steuerzahler. (Beifall links.)

Abg. Arendt (Rp.): Gegen die frischen Worte des Kolonialdirektors stechen die doktrinären Ausführungen des Dr. Semler unerfreulich ab. Für die Behauptung des Südens ist der Bahnbau nötig. Die Ugandabahn hat uns vor einem Aufstande in Deutsch-Ostafrika bewahrt. Der Redner polemisiert dann gegen Ledebour. Es sei ein schwerer Fehler, daß der Eisenbahnbau so vernachlässigt worden sei. Dem Antrag auf Kommissionsberatung werden wir zustimmen. Es ist freudig zu begrüßen, daß anstelle des früheren Marasmus im Kolonialamt ein frischer Geist getreten ist. (Beifall.)

Freitag 1 Uhr: Weiterberatung

Zur Übersicht 1906 der Pressedokumentation | Scan der Originalseite auf Server der UB-Freiburg