Pressedokumentation auf www.freiburg-postkolonial.deForderung nach deutschen Kolonien als "Abzugskanal für Überschußbevölkerung" und für sozialistische Sträflinge |
Freiburger Zeitung - Ausgabe 208 vom 06.09.1878 (Tagesausgabe), 2. Seite Deutsches Reich. Freiburg, 5. September. *Die Nr. 27 des "Grenzboten" enthält unter der Ueberschrift "Socialismus und Deportation" einen Artikel, welcher namentlich mit Rücksicht auf socialdemokratische Sträflinge die schleunige Erwerbung deutscher Colonien empfiehlt. Der Gedankengang dieser hochbedeutsamen Abhandlung ist in gedrängter Kürze folgender: Man hat stets auf Frankreich und dessen geringes Bevölkerungswachsthum als auf ein Beispiel von Entartung und Verfall hingewiesen, im Licht betrachtet erscheint es aber fraglich, ob es ein Vorzug für unser Reich ist, daß seine Bevölkerung in so außerordentlichem Maße zunimmt, während seine Hülfsquellen nicht in gleichem Maße sich vermehren. Es mag deshalb erlaubt sein, wieder einmal die Frage aufzuwerfen, ob es nicht räthlich für Deutschland sei, als Abzugscanäle überseeische Pflanzstätten anzulegen? In den leitenden Berliner Kreisen hat man zwar eine tiefe Abneigung gegen jede Art von Colonisation und Erwerbung überseeischen Besitzes, aber die Nothlage des Vaterlandes fordert zu einer erneuten Prüfung heraus. Vor mehr als 10 Jahren schon suchte Ernst Friedel den richtigen Anschauungen über Colonisationswesen mit Bezug auf Deutschland Bahn zu brechen, indem er im Anschluß an W. Roscher die verschiedenen Arten der Colonien kritisirte. (Ackerbaucolonien, wie es die nordamerikanischen und australischen sind, Eroberungscolonien, wie sie die Spanier und Portugiesen in Mittel- und Südamerika begründeten und wie sie die Franzosen neuerdings in Algier anlegten, Pflanzungscolonien, wie sie Holland hat und Handelscolonien.) Was die deutsche Auswanderung betrifft, so wird dieselbe in nächster Zeit ohne Zweifel einen Aufschwung erfahren, weil die wirthschaftliche und politische Unzufriedenheit im Wachsen begriffen ist. Es giebt bei uns Tausende von Leuten, und zwar höchst befähigte, geschickte und achtungswerthe Leute, welche sich in unsern engen Schranken nicht wohl fühlen, weil sie nicht den richtigen Wirkungskreis, nicht Spielraum für ihre Kräfte finden, und die nun den Socialisten sich in die Arme werfen, bei denen schon ein kleines talent eine große Rolle spielen kann. Außerdem giebt es - um mit Friedel zu sprechen - Viele, welche durch eine unbedachte Handlung gezwungen werden, die Heimath zu verlassen und sich jenseits des Weltmeers eine Heimath zu suchen, in welcher sie von Neuem beginnen und sich im Schweiße des Angesichts eine ehrenvolle Stellung erringen können. Alle diese gehen bei unsern jetzigen verhältnissen mit wenigen Ausnahmen zu Grunde; entweder sie verkümmern auf ungeeignetem Boden im Vaterlande, oder sie werfen sich verzweiflungsvoll dem Auslande in die Arme und finden dort ein Ende. Für solche Schiffbrüchige würde schon eine kleine deutsche Colonie ein Rettungshafen sein. Vor allen Dingen würde uns ein Stück überseeisches Land von Nutzen sein, um diejenigen unterzubringen, welche sich außerhalb der heutigen gesellschaftliche Ordnung stellen. Der Staat, welcher Ruhe als die erste Bürgerpflicht betrachtet, gewinnt entschieden dadurch, daß die unruhigen geister, welche zu Hause nicht gut thun, außer Landes gehen; denn erfahrungsmäßig erwachsen aus diesen später nicht nur brauchbare Glieder für die menschliche Gesellschaft überhaupt, sondern oft auch höchst nützliche Staatsbürger für das Heimathland, welches sie erst in dessen Colonien schätzen und würdigen lernen. Was speciell das System der Deportation betrifft, so wird auf eine ältere Schrift des Herrn Professors F. v. Holtzendorff verwiesen, welche 1859 in Leipzig erschien und den Titel führte: "Die Deportation als Strafmittel in alter und neuer Zeit und die Verbrechercolonien der Engländer und Franzosen." Die Transportationen - sagt v. H. unter anderem - zeigen, wie die für unbrauchbar gehaltenen Granitmassen verbrecherischer Bevölkerungs-Bestandtheile so weit verwittern können, daß eine reife Cultur auf ihnen Wurzel schlägt; sie beweisen den unberechenbaren Einfluß, welchen die staatswirthschaftlichen Verhältnisse auf den Zustand öffentlicher Gesittung ausüben, sie deuten an, wie wenig der unmittelbare Strafzwang als Forderung der gerechtigkeit für die Verwirklichung der relativen Strafzwecke zu leisten vermag; sie lehren uns die Beugung des Rechtsgedankens unter die Herrschaft von Zufälligkeiten Thatsachen kennen, für welche man in der Geschichte des deutschen Strafrechts vergeblich nach einer Parallele sucht. Hinsichtlich der Erwerbung eines passenden Colonialbesitzes wird auch verwiesen auf einen Theil der ostasiatischen Inseln, auf die Neu-Hebriden, Salomonen und Santa Cruz-Inseln im Stillen Ocean, vor allen Dingen aber auf die neu entdeckten afrikanischen gebiete. Dr. Kersten bezeichnet in seiner Schrift (baron Carl Claus v.d. Decken Reisen in ostafrika. Leipzig 1871. II. 193) die fruchtbaren und gesunden gebiete am Schneeberge Lilimandscharo und das bergland Usambara, das Somal- und Gallaland als für deutsche Colonisation besonders geeignet. Zur Übersicht 1878 der Pressedoku | Scan der Originalseite auf Server der UB-Freiburg | nach oben |