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Dokumentation historischer Quellen und Dokumente: Die Reichstagswahlen 1907 |
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Quelle: Stadtarchiv Freiburg M31/1b Nr. 16 (2 Seiten, Hervorhebungen im Original; in Freiburg verteiltes Flugblatt aus Berlin; vermutlich vom örtlichen Wahlausschuss der liberalen Parteien verbreitet. Transkription: Heiko Wegmann. Ergänzender Hinweis: Der Autor des Flugblattes war Dr. jur. Anton Meyer-Gerhard (s.a. Wikipedia). Er trat 1905 in die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes ein und wurde zunächst nach Deutsch-Südwestafrika entsandt, wo er bis 1906 als Oberrichter amtierte. Ab 1907 wurde er als Geheimer Regierungsrat (Geh. RegR) und Vortragender Rat im Reichskolonialamt (Wilhelmstraße 2, Berlin Kreuzberg – Postbezirk: SW 11) verwendet. Dem gehörte er bis 1920 als leitender Beamter an. Das Flugblatt wurde also offensichtlich im Auftrag der Reichsregierung (von Bülow) bzw. des Kaisers erstellt. Arbeiter, Kolonien und Flotte.
Oft wird behauptet, die Kolonien nützten bloß den großen Kaufleuten und Landgesellschaften, aber nicht dem deutschen Arbeiter. Das ist nicht richtig: Der deutsche Arbeiter braucht die Kolonien gerade so nötig. Denn Arbeitsgelegenheit und Lohn hängt davon ab, wie billig fabriziert werden kan, das heißt, wie billig der Fabrikant die Rohstoffe einkaufen und die Fabrikate verkaufen kann. 1. Die Preise gewisser Rohstoffe (z.B. tropische Hölzer, Kupfer, Baumwolle, Wolle, Gummi) schreiben uns jetzt die Amerikaner, Engländer und andere einfach vor; denn sie gewinnen diese Stoffe. Der deutsche Fabrikant muß ihnen dafür zahlen, was sie fordern, sonst bekommt er nichts. Werden die Preise dafür zu hoch, so bleibt dem deutschen Fabrikanten, der mit dem ausländischen konkurrierenden und seine Arbeiter überhaupt weiter beschäftigen will, gar nichts übrig, als daß er die Löhne kürzt. Das tut er wahrhaftig nicht gern und aus Mutwillen, denn er wünscht natürlich selber seine Arbeiter zufrieden. Die Arbeiter streben mit Recht nach besseren Löhnen, und an den Arbeitslöhnen soll nicht gespart werden. Deshalb müssen wir durchsetzen, daß der Fabrikant am Preise der Rohstoffe sparen kann: was er an den Rohstoffpreisen spart, kann den Arbeitslöhnen zugelegt werden. Nun enthält Südwestafrika Kupfer, auch hatte man gerade eine sehr lohnende Wollzucht angefangen, als der Aufstand ausbrach. Deutschostafrika erzeugt z.B. Baumwolle und Hanf, Kamerun und Togo Baumwolle, Gummi, Tropenhölzer. - Wenn wir diese Dinge aus unsern Kolonien billiger nach Deutschland bringen, so bleibt den Amerikanern, Engländern u.s.w. Die gleiche Menge von ihren Vorräten liegen. Infolgedessen müssen sie damit billiger werden. Um je mehr wir Deutschen von jenen Produkten in unsern Kolonien selber gewinnen, um so billiger müssen die Fremden damit werden. Wenn also die deutschen Kolonien gut ausgebaut und entwickelt werden, kann der deutsche Fabrikant an den Einkaufspreisen sparen und dafür seinen Arbeitern lieber den Lohn erhöhen. In einigen Jahren können wir soweit kommen, wenn wir tüchtig an den Kolonien arbeiten. 2. Aber wenn selbst der deutsche Arbeiter so schnell keine Lohnerhöhung erreichen sollte, so kann er auch mit dem selben Lohne besser leben, wenn er sich dafür mehr kaufen kann. Auch das kann geschehen, wenn unsere Kolonien uns die Kolonialwaren, die der Arbeiter braucht, billiger liefern können als die fremden Länder. Zum Beispiel: statt des Kaffees und des Kakaos aus Südamerika kommt der aus Deutsch-Ostafrika und Kamreun; statt Reis aus Ostasien und Indien käme Reis aus den Sumpfgebieten von Kamerun und Togo; statt des holländischen und amerikanischen Tabaks käme Tabak aus Deutsch-Ostafrika, und zwar dies alles billiger. Dann kann der Arbeiter für dasselbe Geld wie vorher jetzt mehr Lebensmittel einkaufen, also besser leben als bisher. 3. Und endlich vermehren unsere Kolonien dem deutsche Arbeiter die Arbeitsgelegenheit. Denn jetzt werden in unseren Kolonien endlich Eisenbahnen, Straßen und Kleinschiffahrtswege gebaut. Dadurch wird es möglich sein, alle Reichtümer, die in den Kolonien stecken, herauszuholen. Infolgedessen wird an Material für Eisenbahnen, an Wagen und kleinen Lastschiffen mehr gebraucht werden als bisher. Die deutschen Ansiedler, die hinausgehen, beziehen ihre Waren aus dem Vaterlande. Die Fabriken müssen also stärker arbeiten. Auf jeden Fall geben die deutschen Kolonien dem deutschen Arbeiter mehr zu verdienen, als er ohne Kolonien verdienen würde. Deshalb muß der deutsche Arbeiter für Kolonien sein. 4. Es wird oft gesagt: Dann brauchen wir aber zu viel Schiffe, und das kostet zu viel.“ Das ist nicht richtig. Angenommen, Frankreich oder Rußland wollte uns unsere Kolonien wegnehmen: Dann rücken wir mit unserem Heere in ihr Land, und wenn wir sie besiegen, müssen sie uns unsere [Seitenwechsel von 1 auf 2] Kolonien lassen. Angenommen aber, eine Seemacht, z.B. England, Nordamerika oder Japan, wollte uns die Kolonien mit ihren Kriegsschiffen wegnehmen: dann schicken wir unsere Kriegsschiffe doch nicht einzeln in alle unsere Kolonien; wir schicken sie alle zusammen gegen die feindliche Flotte. Und wenn wir die feindliche Flotte schlagen oder wenigstens uns vom Leibe halten, verlieren wir auch die Kolonien nicht; unsere Kolonien sind erst dann verloren, wenn unsere Flotte vernichtet ist. Genau so ist dann aber auch unser Seehandel verloren, von dem der größte Teil der deutschen Arbeiter lebt: Die Flotte brauchen wir ganz allein, schon um unsern Seehandel zu schützen, und für die Kolonien brauchen wir auch nicht ein Schiff mehr! - Der beste Beweis dafür ist der: in Mittel- und Südamerika, wo wir nur Handel treiben, haben wir 4 Kriegsschiffe; in Ostasien, wo wir nur den kleinen Handelsstützpunkt Kiautschou und sonst auch nur Handel haben, stehen 9 Kriegsschiffe; in Samoa dagegen, in Ostafrika und in Westafrika, wo wir Landgebiete besitzen, die größer sind als ganz Deutschland, steht überall bloß 1 Kriegsschiff. Weniger könnten wir dort nicht haben, auch wenn wir bloß Handel treiben würden. Die Kolonien kosten uns also nicht mehr Kriegsschiffe! Und nun, Ihr deutschen Arbeiter – Ihr seid fast alle Soldaten gewesen! Eure, unser Brüder, kämpfen, hungern und bluten für uns alle unten in Afrika. Sie und ihre Offiziere wissen vorläufig noch nicht, wann sie mit den schwarzen Feinden fertig werden; bloß daß sie mit ihnen fertig werden müssen, das wissen sie. Diese Tapfern und unsere Regierung können doch nichts dafür, daß der Krieg noch nicht zu Ende ist; zum Vergnügen führen sie ja nicht Krieg! Die Herren vom Zentrum und von der Sozialdemokratie, die auf ihren schönen Sesseln im Reichstage sitzen, schämen sich nicht, unsere kämpfenden, hungernden, durstenden und blutenden Brüder da unten schmählich im Stiche zu lassen, sie wollen ihnen nicht geben, was ihnen zukommt! Ihr Arbeiter, die Ihr Soldaten gewesen seid! Hand aufs Herz: was tätet Ihr, wenn Ihr vor dem Feinde ständet und Euch passierte das? Ihr würdet ganz gewiß diese Herren mit Verwünschungen fortjagen wollen! Tut das nur: jagt sie jetzt bei den Wahlen aus dem Reichstage fort! Kein deutscher Arbeiter, der sich und seine Brüder lieb hat, darf für einen Zentrumsmann oder eine Sozialdemokraten stimmen! --- Verantwortlich: Dr. Gerhard, Berlin-Schöneberg. Druck: Deutscher Verlag (Ges. m.b.H.), Berlin SW 11 |
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Übersicht zu den Reichstagswahlen 1907 Flugblätter/Flugschriften
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