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Dokumentation historischer Quellen und Dokumente: Die Reichstagswahlen 1907 |
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Stadtarchiv Freiburg i. Br., SAF M31/1b Nr. 9 (Freiburger Flugblatt des Wahlausschusses der liberalen Parteien; Format A 3, doppelseitig; Transkription: Philip Aubreville) Wahre und falsche Kolonialpolitik Rede gehalten in der Wahlversammlung der vereinigten Liberalen am 23. Januar 1907 von Professor Dr. Ernst Fabricius
Hochansehnliche Versammlung! Nur noch 1½ Tage trennen uns von der Entscheidung. Der Wahlkampf hat seinen Höhepunkt erreicht. Man sollte meinen, daß es den kämpfenden Parteien kaum mehr möglich wäre, noch weiter Boden zu gewinnen. Hat nicht jeder Wähler, so fragt man sich, seine Entscheidung bereits für sich getroffen? Außer den Unentwegten, die es ja wohl bei jeder Partei gibt, die von vornherein, noch bevor der Reichstag aufgelöst war, wußten, wie sie bei der nächsten Wahl stimmen würden, die gegen alles, was nicht von der eigenen Partei kommt, die Ohren verstopfen und die Herzen verschließen, die nicht nachdenken, sondern mit dem Urteil fertig sind, bevor sie nur die Gründe und Tatsachen recht erfahren haben – außer diesen Unentwegten, dem besonderen Stolz des Zentrums, haben nicht auch diejenigen unserer Mitbürger, die anderer Erwägung zugänglich sind, bereits alle Stellung genommen? Läßt sich überhaupt noch etwas Neues sagen, Entscheidendes noch vorbringen? Meine Herrn! Diese Fragen drängen sich am Schlusse eines jeden Wahlkampfes auf, und die Heftigkeit, mit der er bis zuletzt fortgesetzt wird, die noch immer wachsende Teilnahme der Wähler zeigt, daß keine Partei die Hoffnung [sinken?] läßt, einen oder den anderen zu bekehren. Und wenn jemals, so ist gerade bei diesem Wahlkampfe die Hoffnung auf unserer Seite berechtigt. Denn, meine Herrn, in den sechs Wochen, die seit der Reichstagsauflösung vergangen sind, hat sich etwas Merkwürdiges, etwas Neues, etwas Großes zugetragen, das, wie mir scheint sogar über die augenblickliche Bedeutung dieses Wahlkampfes weit hinausragt. Keinem, der mit offenen Augen die Vorgänge der letzten Wochen beobachtet hat, kann es entgangen sein, wie sich in dieser kurzen Zeit im ganzen deutschen Volke die Erkenntnis Bahn gebrochen hat von der ungeheuren Bedeutung der Kolonialfrage für unser gesamtes wirtschaftliches und politisches Leben. Obwohl 14000 unserer Soldaten seit Jahren in dem südwestafrikanischen Schutzgebiete kämpfen, wer hat sich vor dem 13. Dezember so recht für unsere Kolonien interessiert? Unsere armen Soldaten haben diese Interessenosigkeit der Heimat, die mit der allgemeinen Gleichgültigkeit den kolonialen Dingen gegenüber zusammenhing, auf das schmerzlichste empfunden. Und wie steht es nun, meine Herrn? Seit dem 13. Dezember ist das Interesse für unsere Kolonien ausgebreitet worden über ganz Deutschland, vom Fels bis zum Meer, hineingetragen in jede Hütte, in den entlegensten Hof unserer Schwarzwaldtäler, in alle Schichten unserer Bevölkerung. Alle haben dabei mitgeholfen, freiwillig oder unfreiwillig, die Presse aller Parteien, die Stimmen der Freunde unserer Kolonialpolitik und ihrer Gegner. Ja die Gegner haben, meinte ich, mit ihrer leidenschaftlichen Heruntersetzung des Wertes unserer Kolonien und ihren übertriebenen Anklagen gegen unsere Kolonialverwaltung und ihre Beamten am allermeisten dazu beigetragen, unserem Volke zum Bewußtsein zu bringen, daß die Kolonialfrage für die Zukunft Deutschlands von ganz erheblicher Bedeutung ist. Schon dies ist ein großer Gewinn, ein bleibender Erfolg dieses Wahlkampfes! Diese Kolonien, die uns soweit ablagen, durch wochen- und monatelange Reisewege von uns getrennt, auf der anderen Seite unseres Erdballs unter einem anderen Sternenhimmel, die sind mit einem Male uns mächtig nahe gerückt, in unheimliche Nähe gerückt, sie stehen vor uns; vor einem Jeden unter uns, vor der Gesamtheit des Volkes und fragen: „Wollt Ihr uns anerkennen oder wollt Ihr uns verleugnen?“ „Wollt Ihr uns ehrlich auferziehen oder wollt Ihr uns verkümmern lassen?“ „Gehören wir Euch oder gehören wir Euch nicht?“ Und, meine Herrn wie hat sich nun die Gesamtheit der Nation zu diesen Fragen gestellt? Glauben Sie doch nicht, daß sich das erst übermorgen, erst am Wahltage oder durch diese Wahlen überhaupt herausstellen werde. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, so ist in diesen Fragen die Entscheidung bereits so gut wie gefallen. Denn es hat sich noch etwas weiteres in diesen Wochen zugetragen, das jeder von uns, der nicht in den Vorurteilen befangen war, an sich selbst erfahren und erlebt hat. Bis zum 13. Dezember waren wir alle, der eine mehr, der andere weniger, von der Vorstellung beherrscht, daß der Wert unserer Kolonien im Vergleich mit dem Länderbesitz anderer Nationen arg gering sei; daß es vielleicht kein so großes Unglück für Deutschland wäre, sie wenigstens zum Teil wieder los zu sein; daß sie im besten Falle erst in ferner Zukunft, erst unseren Enkeln und Enkelkindern, wirklichen Gewinn bringen würde. Auch in der Haltung der Reichsregierung den kolonialen Dingen gegenüber war diese Ungewißheit, diese Unsicherheit über den realen Wert der Kolonien bis zu einem gewissen Grade fühlbar. Von ganz wenigen Leuten abgesehen, hat niemand sich so recht getraut, für die Kolonien mit aller Entschiedenheit einzutreten. „Wären wir nur erst wieder heraus aus dem Kolonialsumpf!“ Das war so ziemlich die allgemeine Meinung. Und heute? Nach diesen wenigen Wochen? Welche merkwürdige Wandlung hat sich vollzogen! Fast jeder Tag brachte uns eine neue Erkenntnis, die zu jener Geringschätzung nicht stimmen wollte, fast jeden Tag erfuhren wir neue Tatsachen, die unsere früheren Anschauungen über den Haufen warfen, die Kolonialfragen wuchsen vor unseren Augen und zwangen uns nachzudenken, zwangen uns ganz von neuem dazu Stellung zu nehmen. Noch niemals haben, wie mich dünkt, in so kurzer Zeit die Anschauungen in so wichtigen Dingen eine solche Umgestaltung erfahren. Dieser Wandel der Anschauungen der begann schon am 13. Dezember selbst. In der allerletzten Sitzung der Budgetmission des Reichstags erklärte der Abg. Dr. Spahn, der bekannte Zentrumsführer, nach den Mitteilungen der Sachverständigen, über Südwestafrika, die Sitzung habe dahin klärend gewirkt, daß ein tatsächlich höherer Wert der Kolonie konstatiert worden sei. Dann kehrten die Reichsboten nach der Auflösung zurück in ihre Heimatbezirke und berichteten hier von den Einzelheiten, die sie in der Budgetmission und im Reichstage felost [?] vernommen hatten. Da klang noch vieles anders, als man es sich gedacht hatte. Aus der ungeheuren Sandwüste in Südwestafrika wurde ein Land, das nicht bloß reiche Erzschätze birgt, sondern in den 70er und 80er Jahren, ohne daß damals für seine Kultur etwas geschehen war, 2 Millionen Stück Großvieh ernährt hatte, große Erzschätze birgt und zu Schaf- und Straußenzucht in besonderer Weise geeignet sei. Die Sachverständigen, die jahrelang in der Kolonie gewesen waren, hatten wohl Bücher darüber geschrieben, aber wer hatte diese Bände und Berichte bei der allgemeinen Interessenlosigkeit gelesen? Jetzt in der Weihnachtszeit rief man sie in die Öffentlichkeit, bat sie zum Vortrage und Berichte? Und was erfahren wir? Daß unser Südwestafrika um nichts besser, aber auch um nichts schlechter sei, als der allergrößte Teil der Kapkolonie, als der Oranjestaat, als Transvaal und der Süden Afrikas überhaupt. „Ja wohnen dort“, so fragten wir, „in der Kapkolonie nicht Hunderttausende von Weißen? Treiben sie nicht einen gewinnbringenden Handel? Wachsen die Städte dort nicht in wunderbarer Schnelligkeit aus dem Boden? Haben die Engländer nicht um den Besitz des Transvaal nicht den erbitterten Krieg mit den Buren geführt?, den sie sich 3 Milliarden Mark haben kosten lassen? Und unser Schutzgebiet sagt Ihr, sei um nichts schlechter?“ „Ja gewiß, so lautet die Antwort, die Engländer haben aber auch bereits 4000 Kilometer Eisenbahnen dort gebaut, breitspurige leistungsfähige Bahnen und wir besaßen bis vor kurzem nur die elende Schmalspurbahn von Swakopmund nach Windhuk, noch nicht 400 Klm. weit. Wie kann da etwas rentieren, wenn die Erzeugnisse sich nicht an die Küste befördern lassen!“ „Und in Ostafrika“, so hörten wir von den Leuten, „da hat man es noch viel törichter gemacht: Kaum der Küstensaum unseres weiten, reichen Gebietes ist erschlossen, und während wir hier zögernd die ersten kurzen Bahnlinien projektierten, haben uns die Engländer auf ihrer Nachbarkolonie hart an der deutschen Grenze entlang die Ugandabahn 1000 Km. weit bis an den Victoria-Niassa getrieben und leiten die Erzeugnisse aus dem Innern des deutschen Schutzgebietes nach englischen Häfen!“ „So hatte also der Kolonialdirektor Dernburg doch ganz recht, als er vor kurzem im Reichstag erklärte, daß wir in unseren Kolonien hätten Eisenbahnen bauen, die ungeheuren Gebiete erst hätten erschließen sollen?“ „Und ob er Recht hatte! Das ist ja eben der große Fehler unserer ganzen Kolonialpolitik, daß wir die Länder in Besitz genommen, aber so gut wie gar nicht entwickelt haben. Kein Acker trägt Früchte, der nicht bestellt wird, kein Grundstück kann sich rentieren, solange es nicht nutzbar gemacht ist, keine Kolonie die nicht erschlossen wird.“ Wie man es in solchen Dingen machen und wie man es nicht machen soll, das können Sie, meine Herrn, hier in Freiburg an einem Beispiel sehen mit erwünschter Deutlichkeit: an den beiden großen Bauplätzen an der Werderstraße. Dort sind die Fundamente gelegt, die Gerüste aufgerichtet, die Krahnen in Betrieb gesetzt, die Bauhütten erstellt, ein Bild energischen Schaffens, und hier noch nicht einmal der Bauzaun hergestellt, um die Blöße zu decken um den feierlich gelegten Grundstein. Welches Grundstück glauben Sie wird sich, wenn das so weiter geht, früher rentieren? Die Erkenntnis also, meine Herrn, hat sich uns nun doch wohl aufgedrängt, wir hätten entweder die Kolonialpolitik gar nicht anfangen sollen, oder sie ordentlich betreiben, zielbewußt, kraftvoll, ausdauernd, wie es eines großen Volkes würdig ist. Da sagt dann wohl mancher unter uns: „Gewiß, wir hätten die Finger davon lassen sollen. Wozu auch diese Kolonien, die soviel Geld kosten! Hat man denn überhaupt ein Recht dazu, den Bewohnern dieser Länder, selbst wenn es Schwarze sind, ihren ererbten Besitz wegzunehmen?“ Und wir fragen uns selbst: War es nicht vielleicht ein Vorzug von uns Deutschen, daß wir bis vor kurzem uns fremder Länder nicht bemächtigt haben, daß wir friedlich daheim geblieben sind und unseren Kohl gebaut haben? Die Weltgeschichte gibt auf viele Fragen Antwort. Alle gesitteten Nationen haben seit den Zeiten der alten Griechen und Römer Kolonien gegründet, in moderner Zeit die Engländer, die Spanier, die Franzosen, die Niederländer, die Russen, die ganz Sibirien kolonisiert, und die Dänen, die Skandinavien und Island besiedelt haben. Nur wir Deutschen und die Italiener nicht von den Völkern Europas. Und warum nicht? Nur weil Deutschland und Italien politisch zerrissen waren, weil uns die Kraft dazu gefehlt hat, weil wir Deutsche ein Volk waren der „Dichter und Denker“, aber nicht der praktischen Betätigung. Die ganze koloniale Arbeit der deutschen Hansa ist an unserer Ohnmacht wieder zu Grunde gegangen. Und was haben jene anderen Nationen erreicht? Sehen Sie sich doch die Vereinigten Staaten von Nordamerika an, dies ungeheure Land, einstmals von Wäldern und Steppen bedeckt, in denen die Indianerstämme dem Wild nachjagten, in den ungeheuren, unbewohnten Jagdgründen, einander unablässig bekämpften, dem besiegten Gegner die Kopfhaut herunterschnitten, oder ihn abschlachteten unter scheußlichen Qualen. Und heute? 80 Millionen gesittete Menschen, ungeheure Städte, ein reich zivilisiertes Land mit hochentwickeltem Ackerbau und einer blühenden Industrie, vor allem Naturkräfte erschlossen, die der ganzen Welt zustatten kommen, die wie das Petroleum heute in keinem Hause mehr fehle! Die europäischen Völker müssen diesen Ländern die Errungenschaften ihrer Technik, ihrer Wissenschaft, ihrer Gesittung, auch dort wo das Klima dem Europäer den dauernden Aufenthalt unmöglich macht, durch den Missionar, den Arzt, den Ackerbauer, den Ingenieur, müssen die Naturkräfte erschließen zum eigenen Vorteil der Eingeborenen und zum Nutzen der gesamten Menschheit. Wenn wir Deutsche es nicht tun, so tun es die anderen Nationen. Sollen wir mit ansehen, daß die ganze Welt schließlich von den Engländern in Besitz genommen wird, daß sie allein die Vorteile daraus ziehen, daß die englische Rasse schließlich zur allein herrschenden wird auf der Erde? Sind wir denn wirklich nicht reich genug zu dieser Kulturaufgabe? Drücken die Aufwendungen uns so sehr, daß wir sie nicht zu tragen und leisten vermöchten? Unser Nationalvermögen wächst gegenwärtig alljährlich um beträchtlich mehr als eine Milliarde Mark. Allein die Ersparnisse, die in den öffentlichen Sparkassen in jedem Jahre von den Minderbemittelten angelegt werden, betragen zurzeit etwa 700 Millionen Mark, ebensoviel als uns die ganze Kolonialpolitik in 22 Jahren gekostet hat. Und das ist doch nur ein Teil der Zunahme unseres Nationalvermögens. Ueberlegen Sie einmal, was alljährlich für die unnützesten Dinge, wie für Ansichtspostkarten, in Deutschland ausgegeben wird. Ich habe dieser Tage in einem Berichte der Verwaltung gelesen, daß auf der Saalburg, dem alten Römerkastell im Taunus, im verflossenen Jahr 78200 Ansichtspostkarten verkauft worden sind: an einem einzigen Vergnügungsort. Es wäre ein Rechenexempel für den Herrn Erzberger, einmal festzustellen, wie viel Millionen Mark alljährlich in Deutschland für Ansichtspostkarten ausgegeben werden. Für diesen gedankenlosen Unfug wirft das deutsche Volk das Geld zum Fenster hinaus, aber die Aufwendungen für unsere Schutzgebiete können wir nicht erschwingen! Allerdings lebt von den Ansichtskarten eine große Industrie mit Tausenden von Arbeitern, denen wir den Verdienst herzlich gönnen. Aber ist es etwa bei den Schutzgebieten anders? Wird unsere industrielle Ausfuhr nach den Kolonien nicht gleichfalls im Inlande hergestellt, kommen die Aufwendungen des Reiches für die Schutzgebiete nicht gleichfalls unserer Industrie, unseren Arbeitern zugute? Schon jetzt leben ja viele Tausende von ihnen bereits ausschließlich von der Herstellung der Fabrikate aller Art für deutsches Kolonialland. Die Einwohnerzahl Deutschlands wächst gegenwärtig Jahr ein, Jahr aus um beinahe 1 Million Menschen. Das ist ein erfreuliches Zeichen unserer Kraft, der Gesundheit unseres sozialen Körpers. Aber möglich ist diese Zunahme nur durch unseren Handel und unsere Industrie. Schon längst ist die Industrie über die Versorgung des inländischen, heimatlichen Marktes hinausgewachsen, für ihre eigene Erhaltung angewiesen auf das Ausland, auf den Weltmarkt. Vom Ausland kommt die überwiegende Masse der Rohstoffe, die unsere Industrie verarbeitet, ein großer Teil der Nahrungsmittel, von denen sie lebt, nach [Wechsel auf Seite 2] überseeischen Ländern gehen die Erzeugnisse, deren Herstellung die ungeheure Zahl unserer Industriearbeit ernährt. Unsere Wirtschaftspolitik ist Weltpolitik geworden, sie muß es sein und muß es bleiben. Diese Entwicklung aufhalten, hieße unserem sozialen Körper die Lebensluft rauben, ihm die notwendige Nahrung entziehen, hieße unser gesundes Wachstum hemmen, Tausende und Abertausende brodlos machen, die Eheschließungen erschweren und verzögern, ein namenloses Unglück bringen über unser ganzes Volk. Die Not, die augenblicklich eintreten würde, wenn der Absatz unserer Erzeugnisse einen erheblichen Rückgang erfahren sollte, würde in den großen Industriezentren beginnen und sich fortsetzen durch alle Volksschichten und alle Landschaften bis in jedes Dorf hinein und bis in den stillsten Winkel unserer Berge. Denn auch die Existenz unserer Bauern hängt auf das innigste mit der Kaufkraft der übrigen Bevölkerung zusammen. Steht uns nun der Weltmarkt für alle Zukunft so offen, sind unsere Absatzgebiete nirgends bedroht, besteht nirgends Gefahr, ganz abgesehen von einem Kriege, daß diese notwendige Entwicklung aufgehalten und unterbunden könnte, ist die Not, von der ich sprach, für alle Zeit ausgeschlossen? Niemand, der die Vorgänge auf dem Weltmarkt beobachtet, kann diese Frage bejahen. Im Gegenteil, die Gefahren zeigen sich an allen Ecken und Enden, sie wachsen an wie drohendes Unwetter, sie ziehen sich um uns herum zusammen und beginnen bereits sich zu entladen. Auf der anderen Seite des Erdballes suchen die Japaner den europäischen Nationen die Absatzgebiete im fernen Osten zu entreißen. Nordamerika, bis jetzt noch ein Hauptabnehmer unserer Erzeugnisse und der Hauptlieferant der uns unentbehrlichen Rohprodukte, steigert seine Industrie mit den Arbeitskräften, die wir selbst durch unsere Auswanderung dahin immer noch abgaben, mit jedem Jahr, mit Riesenschritten geht es dem Ziel entgegen, sich unabhängig zu machen vom Auslande, selber das Ausland zu überschwemmen mit seinen Erzeugnissen, uns auch den südamerikanischen Markt wegzunehmen. England ist darauf und daran, sein ungeheures Kolonialgebiet durch eine gemeinsame Zollschranke abzuschließen, um alle fremde Konkurrenz davon auszuschließen. Die Großkapitalisten in London, New York und Chicago gehen mehr und mehr darauf aus, die uns unentbehrlichen Rohprodukte aufzukaufen, Ringe zu bilden zur Zurückhaltung der Produktion und damit zur Steigerung der Preise, zu einer Verteuerung des Materials, die bei uns die Verarbeitung nicht mehr lohnend macht. Im Inlande können und müssen wir solche Ringbildungen, wie sie von den Kohlebaronen versucht werden, die uns die allernotwendigsten Bedürfnisse verteuern, durch gesetzliche Mittel verhindern, wenn es nicht anders geht durch Verstaatlichung oder Expropriation. Aber die Wirkung unserer Gesetzgebung, der Arm unserer Gerichte reicht nicht über das Weltmeer, reicht nicht einmal bis nach Basel. Gegen die Preistreiberei des Petroleumringes, der uns mit jedem Liter Petroleum einen Tribut abfordert, sind wir machtlos, weil wir selbst diesen noch unentbehrlichen Brennstoff nur in verschwindender Menge produzieren können. Mit dem Kupfer, mit der Baumwolle, die nun einmal bei uns nicht gezogen werden kann, mit Kaffee und Kautschuk versucht man dasselbe. Die künstliche Steigerung der Baumwollenpreise durch die Ringbildung im Ausland kostet uns Deutsche jetzt schon alljährlich 150 Millionen Mark, 5 mal soviel als der durchschnittliche Jahresaufwand für unsere Kolonien. Auch mit diplomatischen Mitteln ist dagegen gar nichts zu machen. Sie erinnern sich, daß der berechtigte Versuch, unserem Handel in Marokko die Gleichberechtigung gegen die Monopolgelüste anderer Staaten zu sichern, fast einen Weltkrieg entfacht haben würde. Gegen alle diese unseren Fortschritt, unsere Existenz, die Existenz von Millionen unserer Mitbürger bedrohende Gefahren gibt es nur ein [ einziges?] Mittel der Abwehr, einen einzigen Schutz: eine zielbewußte energische Kolonialpolitik. Nur in unseren eigenen Kolonien können wir uns Ersatz schaffen für den sicheren Verlust der Absatzgebiete in anderen Ländern, dauernden Ersatz, der zudem einer ungemessenen Steigerung fähig ist. Wir müssen nur unsere Schutzgebiete, die ein Vielfaches der Größe Deutschlands darstellen, entwickeln, wie es England mit seinen Kolonien tut. Nur wenn wir die Zulassung oder den Ausschluß fremder Konkurrenz in einem eigenen, ausgedehnten Kolonialgebiet in der Hand behalten, können wir uns gegen die Ausschließung unseres Handels aus dem überseeischen Besitz anderer Nationen erfolgreich wehren. Nur wenn wir in Ländern, die unter unserer Herrschaft stehen, die uns notwendigen Rohprodukte selbst erzeugen, können wir die Ringbildungen, die gewaltsame Verteuerung dieser Rohstoffe durch das Ausland, erfolgreich bekämpfen. Nur auf unserem eigenen, neudeutschen Boden sind wir imstande, die Tausende unserer Volksgenossen, die in der Heimat keine sichere und sie befriedigende Existenz finden, die alljährlich der Wagemut in die weite Welt treibt, davor zu bewahren, daß sie und ihre Nachkommen ihr deutsches Volkstum, ihre Sprache, ihre Sitte und ihre Region, die Gemeinschaft mit dem Vaterlande verlieren, und der Heimat durch ihre Arbeit statt zu nützen eine nachteilige Konkurrenz bereiten. Das alles können unsere Kolonien uns leisten. Wir brauchen keine andere Nation um ihren kolonialen Besitz zu beneiden. Es ist gar nicht wahr, daß wir zu kurz gekommen seien, weil wir erst in zwölfter Stunde gekommen sind, als die übrige Welt schon verteilt war. In unseren Schutzgebieten besitzen wir nutzbares Land, nutzbar zu Plantagenbetrieb oder zu Ansiedlung, das zusammen fünf mal so groß als das Deutsche Reich ist. Dort lassen sich mit der Zeit fast alle Rohprodukte im Ueberschuss herstellen, die unsere heimische Arbeit nötig hat. Auf unabsehbare Zeit reichen die Naturschätze unserer Schutzgebiete wenn wir sie richtig ohne Raubbau zu treiben, heben, wenn wir ihre Nutzbarmachung organisieren, aus, um uns in der Heimat die Möglichkeit der Arbeit zu sichern, auch wenn unser Volkstum noch immer weiter zunimmt. Darüber sind alle Sachverständigen einig, zu denen ich freilich nur die Fachmänner nehme, die in den Kolonien gewesen sind, die Botaniker, die Aerzte, die Ingenieure, die Farmer und Kaufleute, nicht den Herrn Erzberger und seines Gleichen. * * * Das sind doch, dächte ich, so einfache, so überzeugende, so schlechthin zwingende Erwägungen, daß es schier unbegreiflich ist, wie es überhaupt noch Gegner einer zielbewußten Kolonialpolitik bei uns geben kann, am unbegreiflichsten, daß gerade die Sozialdemokratie, die so gern die Vertretung unseres Arbeiterstandes für sich allein in Anspruch nehmen möchte, nicht mit aller Gewalt im Interesse des Arbeiterstandes darauf hinarbeitet. Ich meine, wenn man diese Verhältnisse sich klar macht, so müsse es Einem wie Schuppen von den Augen fallen. Und nur den einen Vorwurf könnten wir erheben: Warum hat man uns das nicht längst gesagt, warum hat man uns das nicht längst klar gemacht? Meine Herren! Diesen Vorwurf sollten wir nicht so unbedingt gelten lassen. Sind nicht gerade die Männer die Aufklärung über unsere kolonialen Verhältnisse zu verbreiten suchten, als Kolonialschwärmer verspottet, durch diesen Spott mundtot gemacht, haben die Spötter nicht selber sich die Ohren verschlossen gegen alles, was sie uns sagen wollten? Und wie haben die berufenen Vertreter des deutschen Volkes, die Mitglieder des Reichstages, die kolonialen Fragen behandelt? Sie, die doch vor allem die Aufgabe gehabt hätten, statt unfruchtbare, mißliebige Kritik zu üben, die Ziele unserer nationalen Wirtschaft klar zu erkennen und im Interesse der Allgemeinheit zu vertreten? Wie ein Korrektor, der einen Druckbogen durchliest, nur auf die Fehler des Setzers achtet, auf den oder jenen falschen Buchstaben, aber um Inhalt und Sinn des Textes sich nicht kümmert, so haben sie immer nur die Fehler herausgesucht, und wo sie eine Verfehlung fanden, ein ungeheures Geschrei erhoben. Seit Jahr und Tag tischt man uns diese Greuelgeschichten auf, als ob bei uns daheim nicht Widerwärtiges gerade genug passierte, endlos werden die Verfehlungen der paar Leute, die sich schlecht benommen haben, breit getreten. Immer sind es dieselben Namen, die dadurch, daß sie ewig wiederholt werden, zu einer traurigen Berühmtheit gelangt sind. Sie haben durch ihre Verfehlungen eine schwere Schuld auf sich geladen und Deutschland einen kolossalen Schaden gegeben. Aber unter dem Schutz der Immunität der Abgeordneten werden auch andere tüchtige, pflichttreue Beamte auf verlogene Berichte hin beschuldigt und verurteilt. Von den Hunderten, die im Dienste des Vaterlands und der Kultur da draußen in den Kolonien ihre Pflicht getan, die ihr Leben und ihre Gesundheit geopfert haben, die zum Teil ausgeharrt haben bis in den Tod, von denen ist nicht die Rede. Kein Wort der Anerkennung, kein Wort des Dankes! Nein, dadurch, daß der Anschein erweckt worden ist, als ob so ziemlich jeder, der in die Kolonien geht, ein Schurke sei, ist die Ehre aller mit in den Kot gezogen worden. Uns nun ziehen diese Leute noch gar im Lande herum, bringen immer wieder den alten Klatsch vor, rühmen sich sogar noch ihrer Verdienste. Schöne Verdienste! In schwieriger Zeit, wo in dem Kolonialamt alle Hände mit der Sorge für unsere draußen kämpfenden Truppen, mit der Wiederaufrichtung unseres schwer heimgesuchten Schutzgebietes zu tun hatten, in solcher Zeit der höchsten Anspannung haben sie unsere Kolonialbeamten durch unaufhörliche sogenannte Enthüllungen in Aufregungen versetzt, durch verkehrte Anklagen und Beschuldigungen in Verzweiflung gebracht, die Arbeit, dort wo sie so nötig war, lahm gelegt. Und ihr zweites Verdienst ist, daß sie uns vor dem Auslande bloßgestellt haben, als ob unsere Herrschaft nur in Willkür und Grausamkeit bestände. Mit ihren gewissenlosen, unsinnigen Anklagen haben sie den deutschen Namen und die deutsche Ehre besudelt! Und das Hauptverdienst dabei war, daß sie dem deutschen Volke selbst einen solchen Dunst vor die Augen gemacht haben, daß wir die wahren Verhältnisse und Aufgaben nicht zu erkennen vermochten. Aber Gott sei Dank! Der Hauch, der sich am 13. Dezember erhoben hat, der ist zum Sturm geworden, und über die schneebedeckten Gaue unseres Vaterlandes hat er den Nebel und den Gestank weggefegt und er hat die Herzen frei gemacht, daß wir wieder mit freudigem Mut in die Zukunft blicken. Mag diese Wahl jetzt ausfallen wie sie will; mögen sie noch weiter reden, was sie wollen. Das wissen wir schon heute: Das Zentrum und seine Leute haben mit ihrer Kolonialstänkerei abgewirtschaftet. Und diesen Sieg verdanken wir in erster Linie dem jungen Mann, der seit langer Zeit zum ersten Mal wieder von dem Regierungstisch im Reichstag ein freies Wort gewagt hat, der die Fesseln gesprengt hat, in die uns die Herrschsucht des Zentrums geschlagen hatte, der das deutsche Volk aufgeklärt hat über den wahren Wert seines kolonialen Besitzes und über seine nationalen Aufgaben, den Sieg verdanken wir Bernhard Dernburg. Wie David den Riesen Goliath, so hat der kleine Bernhard den Stumpfsinn hingestreckt und die Unwissenheit und Anmaßung. Wie heißt es doch in dem Studentenlied: „Er hatte Knochen wie ein Gaul, Und ein entsetzlich großes Maul, Doch nur ein kleines Hirn!“ Von diesem Riesen lassen wir uns nicht mehr einschüchtern! Lieber wollen wir auf die Mahnung hören, die Dernburg von München aus dem deutschen Volke zuruft: „Die Gleichgültigkeit der deutschen Nation gegenüber den Kolonien hat es zuwege gebracht, daß einige eifrige Männer mit Motiven besonderer Art und einseitigen und zum Teil kleinlichen Gesichtspunkten um unser koloniales Wesen große Scheiterhaufen angezündet haben, in denen sie versuchen, unsere Bestrebungen, unsere Beamten, unsere Einrichtungen und unser Wollen in Bausch und Bogen verbrennen. Neben diese Scheiterhaufen haben sie die eigenen kleinen selbstsüchtigen Suppentöpfchen gestellt, um dort ein Gebräu gar zu machen, das sie als die Essenz des deutschen kolonialen Wesens und Strebens ausgegeben haben und mit dem sie unsere Nation und, wie ich hoffe, nicht zuletzt sich selbst vor In- und Ausland heruntergesetzt haben. Meine Herren, diesen Scheiterhaufen werfen wir zusammen.“ Univ. Buchdruckerei U. Hochreuther, Freiburg i. B. |
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