Reihe: Freiburger StraßennamenDer Hannah-Arendt-Wegvon Julia Schulze Wessel * |
* Dr. phil. Julia Schulze Wessel ist seit Januar 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der TU Dresden Von ihr erschien 2006: Ideologie der Sachlichkeit. Hannah Arendts politische Theorie des Antisemitismus. stw-Reihe. Suhrkamp, Frankfurt a.M. Zurück zur Rubrik Orte / Freiburger Straßennamen
Siehe auch zum Thema (extern): Rassismus bei Hannah Arendt - Blind für den Widerstand der Kolonisierten.Iris Därmann im Gespräch mit René Aguigah, Deutschlandfunk, Beitrag vom 22.11.2020
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1. Zur Person Hannah Arendts und der Inschrift des Strassenschildes in Freiburg 2. Imperialismus und Rassismus - Hannah Arendts eurozentrischer Blick auf den „schwarzen Kontinent“
Foto: Heiko Wegmann (2006) 1. Zur Person Hannah Arendts und der Inschrift des Strassenschildes in Freiburg Die politische Denkerin ... In knappen Worten zu sagen, wer Hannah Arendt (1906 - 1975) war, ist angesichts ihres vielseitigen, durch Brüche geprägten Lebens äußerst schwierig. In jedem Fall hätte Hannah Arendt dem Text des ihr gewidmeten Freiburger Straßenschildes keine Zustimmung gegeben, denn sie hat zwei darin enthaltene Zuschreibungen immer vehement abgelehnt: als Professorin und als Soziologin bezeichnet zu werden. In ihren Briefwechseln gibt es mehrere Beschwerden über den ihr zugesprochenen Professorinnen-Titel, da sie nie eine ordentliche Professur inne hatte, sondern immer nur für eine bestimmte Zeit an verschiedenen Universitäten lehrte. An der Soziologie als einer Wissenschaft von der Gesellschaft hatte sie keinerlei Interesse – das hing wahrscheinlich mit ihrem sehr eigenen und zurecht oft kritisierten Verständnis von Gesellschaft zusammen. Sie selbst hat sich immer als politische Denkerin beschrieben. In dem berühmten Interview mit Günter Gaus sagte sie, nicht die Philosophie sei ihr Fach, sondern die Politische Theorie. ... und Weltbürgerin Und auch Identifikationen mit dem jeweiligen Land, in dem sie lebte, waren ihr fremd. Sie war amerikanische Staatsbürgerin ebenso wie sie einmal deutsche Staatsbürgerin gewesen ist. Aber identifikatorische Bedeutung hatte es für sie nicht. Nach Jahren der Unsicherheit, der Flucht aus Nazi-Deutschland und des Lebens als Ausländerin in Frankreich feiert sie allerdings emphatisch ihre Anerkennung als amerikanische Staatsbürgerin: „Ich habe den Paß“, so schrieb sie begeistert, „das schönste Buch, das ich kenne.“ Amerikanische Staatsbürgerin zu sein bedeutete für sie, nach den Jahren der Entrechtung wieder als Rechtsperson anerkannt zu sein. Ebenso hatte sie sich ehemals als deutsche Staatsbürgerin verstanden, sich jedoch selbst als Jüdin bezeichnet. Mit ihrem Doktorvater Karl Jaspers führte sie schon vor 1933 erbitterte Diskussionen über ihr „Deutschsein“. Jaspers wollte sie als „Deutsche“ identifizieren, sie lehnte seine Definition kategorisch ab. Sie selbst setzte dagegen, Jüdin zu sein – für sie eine nie angezweifelte Tatsache. Das war wohl ihre einzige Selbstdefinition, die für sie ein Leben lang galt. Nach 1945, als sie von Jaspers um einen Text von ihr gebeten wurde, den sie in seiner Zeitschrift veröffentlichen sollte, bestand sie auf ein Vorwort, das sie als Jüdin kennzeichnete. Wenn sie schon zurückkehrte (als Autorin eines Textes), so war es ihr ein tiefes Bedürnis, als Jüdin zurückzukehren. Was genau diese jüdische Identität für sie bedeutete, außer dass es für sie ein Politikum ersten Ranges war, ist allerdings bis heute sehr umstritten. Die Schrecken des Nationalsozialismus Hannah Arendt teilt mit anderen Intellektuellen ihrer Zeit das unbedingte Bedürfnis, sich immer wieder mit den Schrecken des Nationalsozialismus und damit der Vernichtung der europäischen Juden auseinanderzusetzen. Wie die Werke von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die Schriften von Jean Améry und Hans Günter Adler, um nur einige zu nennen, ist auch ihr gesamtes Werk geprägt von dem Schock, den Auschwitz bewirkt hatte. Dieses Ereignis setzte Arendt zufolge althergebrachte Kategorien und Denktraditionen außer Kraft. Ihre Auseinandersetzung mit den staatenlos gewordenen Menschen, mit den Massen an Flüchtlingen, die nach dem Ersten Weltkrieg auf der europäischen Bühne erschienen, bleibt bis heute herausragend in der Zunft der politischen Denker. Denn sie hat das Problem der Staatenlosen und Flüchtlinge in den Mittelpunkt ihrer Beschäftigung mit der Vorgeschichte der totalen Herrschaft gestellt. Die massenweise Existenz von heimat- und staatenlos gewordenen Menschen inmitten eines sich als zivilisiert verstehenden Kontinents gilt Arendt als Zeichen des totalen Bankrotts eines nationalstaatlich organisierten Europas. Diese „überflüssig“ gemachten Menschen, die zu keiner politischen Gemeinschaft gehören und deswegen im schlimmsten Sinne des Wortes vogelfrei waren, kündigen für sie den unheilvollen Aufstieg einer totalitären Bewegung an, die ihren Höhepunkt in der Vernichtung „überflüssig“ gemachter Menschen erreicht. Hannah Arendt hat in ihrem großen Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft als bis heute einzige politische Denkerin so etwas wie eine politische Theorie des Flüchtlings geschrieben und ist mit ihren Analysen noch heute hoch aktuell. Ihre Auseinandersetzung mit den Staatenlosen kulminiert in der Beschäftigung mit den Konzentrations- und Vernichtungslagern, mit einer historisch unbekannten Form totaler Menschenbeherrschung. Auschwitz ist der Dreh- und Angelpunkt ihres gesamten Werkes, das von ihrem Willen durchdrungen ist, das Unbegreifbare wenigstens ansatzweise verstehen zu können. 2. Imperialismus und Rassismus - Hannah Arendts eurozentrischer Blick auf den „schwarzen Kontinent“ Hannah Arendt erklärt in dem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, das 1951 zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten erschien, sowohl den europäischen Antisemitismus als auch den Imperialismus der europäischen Staaten zu den Ursprüngen, die die totale Herrschaft hervorgebracht hätten. Ihre Antisemitismustheorie ist genauso wie ihre Imperialismusanalyse bis in die heutige Zeit in weiten Teilen vernachlässigt worden und ist nur marginal in Forschungsarbeiten über Hannah Arendt eingegangen. Bei ihrer Imperialismusanalyse mag das damit zusammenhängen, dass ihre Äußerungen über die Kolonisierung Afrikas in weiten Teilen von eurozentristischen und rassistischen Argumentationen durchzogen sind, die in ihren ansonsten so überlegten und durchdachten Analysen wie Fremdkörper wirken. Und so werden ihre Kapitel über den so genannten „schwarzen Kontinent“, wenn sie überhaupt erwähnt werden, meistens scharf kritisiert. Wenn man jedoch die Argumentation mit ihrem Vorgehen in den Kapiteln über den modernen Antisemitismus vergleicht, dann stößt man auf einige Parallelen, die ihre Ausführungen über die Anfänge des überseeischen Rassismus vielleicht etwas verständlicher machen können. Im Folgenden soll zunächst Arendts Blick auf die Kolonisierung der Länder Afrikas und den Imperialismus dargestellt werden, um zum Schluss die Parallelen zwischen ihrem Antisemitismus- und ihrem Rassismusbegriff deutlich zu machen. Das imperialistische Zeitalter Arendts zeitliche Einteilung des imperialistischen Zeitalters entspricht klassischen Imperialismustheorien. Diesen zufolge beginnen die imperialistischen Expansionsbestrebungen mit dem „scramble for Africa“ 1884 und enden 1914 mit dem Ersten Weltkrieg. Das historisch Neue dieser Epoche und ihre enge Verwandtschaft mit der totalen Herrschaft untersucht Hannah Arendt zum einen auf geistesgeschichtlicher Ebene und zum anderen auf der Ebene der Herausbildung neuer politischer Herrschaftsformen und -strategien. Arendt geht den Veränderungen nach, die sich in politischer Hinsicht aus dem Imperialismus ergeben haben. Das politisch Neue des Imperialismus hängt bei Arendt eng mit der Überzeugung zusammen, dass diese Zeit durch den politischen Aufstieg der Bourgeoisie gekennzeichnet sei. Zuvor der Politik vollkommen desinteressiert gegenüber stehend, habe sie im Imperialismus die Macht an sich gerissen. Das Fatale dieser Entwicklung liegt für Arendt darin, dass die Bourgeoisie aus rein ökonomischen Gründen Interesse an der Politik gezeigt und diese der ökonomischen Logik gemäß zugerichtet habe. Einzig daran interessiert, ihre geschäftlichen Interessen durchzusetzen, übersetzte nun also die neue herrschende Klasse die Logik des Kapitalismus ins Politische. Die Idee einer weltumfassenden Herrschaft entspringe der imperialistischen, an der endlosen Kapitalakkumulation ausgerichteten Logik, die alle politisch gesetzten Grenzen und damit das nationalstaatliche Gefüge zerstört habe. Damit habe sich auch in der Politik die Vorstellung von einer sinn- und endlosen Expansion von Macht durchgesetzt. Diese Entwicklung sieht Arendt in der totalen Herrschaft enden, in ihrer absolut sinnlosen Bewegung, die nur um ihrer selbst willen weiter voranschreitet. Zur Dominanz politischer Interessen Die tief greifende Veränderung, die sich in politischer Hinsicht für Arendt aus dem Imperialismus ergeben hat, ist das Entstehen rassistischer Ordnungsvorstellungen und Welterklärungsmodelle in der Zeit der Expansion. Die ursprüngliche Triebfeder des Imperialismus, die Überproduktion von Kapital und die daraus resultierende Notwendigkeit, neue Gebiete für die Investition zu erschließen, verschwindet nach Arendt im Laufe der Zeit immer mehr, bis sie schließlich ganz zurückgetreten ist. Imperialistische Politik verlässt den Weg ökonomischer Gesetzmäßigkeit, die anfänglichen Profitinteressen treten nach Arendts Imperialismustheorie immer weiter in den Hintergrund. Sie interpretiert den Imperialismus in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft vielmehr als ein substantiell politisches Phänomen, das über die rassistische Ideologie neue politische Prinzipien durchzusetzen versucht. Insofern wendet sich Hannah Arendt auch vehement gegen Imperialismustheorien, die diese Epoche ausschließlich aus ökonomischer Perspektive betrachten. Diese Reduktion bedeute, die politische Struktur, das heißt, die Einteilung der Menschheit in Herren- und Sklavenrassen, zu verdecken und zu ignorieren. Rassismus als soziales Ordnungsmodell Aus dem Imperialismus geht die im zwanzigsten Jahrhundert entstandene zweite große Ideologie neben dem Antisemitismus, der Rassismus, hervor. Seinen Ursprung führt Arendt, ähnlich wie auch in ihrer Analyse des gesellschaftlichen Antisemitismus, auf den unbedingten Willen verschiedener europäischer Gesellschaften zurück, sich von anderen gesellschaftlichen Gruppen unterscheiden zu können. Schwarze Menschen sollten nicht als Gleiche anerkannt werden. Jedoch wird auch der Rassismus zu einer Herrschaft legitimierenden Ideologie und so zu einem Instrument der Politik. Insbesondere mit der Analyse der rassistischen Aufladung des Antisemitismus, welcher sie in ihrem Imperialismus-Kapitel nachgeht, wird sie ihrer Intention gerecht, mit dem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft einen „Frontalangriff“ gegen das neunzehnte und beginnende zwanzigste Jahrhundert zu starten (1). Allerdings tauchen rassistische Theorien nicht erst in der Zeit des Imperialismus auf. Das Neue ist für Arendt die Entdeckung des Rassismus als gesellschaftliches und politisches Ordnungsmodell von Gesellschaft. Sie geht in ihrer Rassismusanalyse auf die im wissenschaftlichen Gewande auftretenden rassistischen Theorien des neunzehnten Jahrhunderts zurück. Die zentrale Funktion der rassistischen Erklärungsmodelle von Gesellschaft sieht Arendt in der Gegenwehr gegen die Veränderungen in der bürgerlichen Gesellschaft, die die vormals durch Tradition gesicherten Herrschaftsverhältnisse auflöst. Arendt macht anhand der Entstehung von vorimperialistischen Rassetheorien in verschiedenen Ländern – u.a. Frankreich und Deutschland – den Zusammenhang zwischen Klassenstruktur, der Verweigerung der Idee der universellen Gleichheit und Rassedenken deutlich. Gobineaus Rassenlehre Erste rassistische Ideen führt Arendt auf gesellschaftliche Konflikte zurück, erwachsen aus dem Kampf um die gesellschaftliche Vormachtstellung zwischen Adel und Bürgertum. Sie legt den Beginn einer auf biologistischen Kriterien beruhenden Sicht auf Gesellschaft in das Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts, wo der Adel, da seine durch die Monarchie garantierten Rechte verloren gegangen waren, neue Argumente benötigt, um seine alte Position als Elite der Gesellschaft zu rechtfertigen. Zunächst wird die Überlegenheit des Adels noch nicht rassistisch, sondern historisch durch Verweise auf besondere Leistungen der Völker begründet (2). Eine neue Qualität Herrschaft legitimierender Argumentationen macht Arendt an Rassetheoretikern wie Graf Gobineau fest, dessen Geschichtsschreibung auf rein rassistischer Grundlage beruht (siehe auch den Bericht zum Gobineau-Vortrag 1902 im Freiburger Tagblatt und Gobineau bei Wikipedia). Zum ersten Mal in der Geschichte entsteht hier die Idee der Züchtung einer überlegenen Rasse, die den als zwangsläufig angesehenen Untergang der Gesellschaft aufhalten soll. Im Gegensatz zu Frankreich, wo die Rassedoktrin die französische Gesellschaft spaltete, indem sie die Überlegenheit bzw. Unterlegenheit einzelner Schichten innerhalb der Gesellschaft bestimmte, diente der Rassismus in Deutschland dazu, die Überlegenheit der Deutschen gegenüber dem gemeinsamen Feind Frankreich zu begründen und dadurch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu schaffen. Der Rassismus verleiht der „Volksgemeinschaft“ die innere Stabilität (3). Arendt führt dieses Denken darauf zurück, dass „es Deutschland eben nicht gab und auf deutschsprachigem Territorium sich ein nationales Gedächtnis nicht gebildet hatte. [... ] Die Entwicklung des deutschen Nationalgefühls blieb entscheidend an der Tatsache der Fremdherrschaft und nationalen Unterdrückung orientiert, es blieb ein Reaktionsgefühl, das ohne die Realität eines äußeren Feindes seinen Sinn verlor und daher leichter ins Hysterische umschlug als das Nationalgefühl anderer Nationen.“(4) Hiermit führt Arendt bereits zwei Argumente an, die die Attraktivität rassistischer Theorien erklären sollen: Zum einen ist Rassismus Herrschaftslegitimation. In den ersten französischen rassistischen Gesellschaftsanalysen war der Beweggrund, die alte Vormachtstellung, die sich langsam aufzulösen begann, durch Biologisierung von Unterschieden zu rechtfertigen. Zum anderen schafft rassistische Abgrenzung eindeutige Identifikationsmöglichkeiten, die qua Geburt den Menschen eigen sind. Rassismus und „reale Konflikte“ Allerdings sind weder der Rassismus noch der Antisemitismus bei Hannah Arendt reine Konstrukte, die lediglich den Interessen der vorverurteilenden Individuen entstammen. Arendt zufolge liegt sowohl dem modernen Rassismus als auch dem modernen Antisemitismus ein realer gesellschaftlicher bzw. persönlicher Konflikt zugrunde. Das Entstehen rassistischer und antisemitischer Vorstellungen führt Arendt damit nicht einzig auf Defizite und Krisen der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Individuen zurück, sondern auf reale Erfahrungen mit Juden und mit der „Urbevölkerung“ Afrikas. So verweist Arendt auf den Schrecken der Europäer angesichts der schwarzen Menschen, die als Menschen gar nicht wahrgenommen worden seien. Man sei außerhalb der zivilisierten Welt gewesen und sei auf eine „schemenhafte [... ], halb irreale [... ] Welt der Kolonien“ gestoßen. Diese Welt, die nach Arendts politischer Theorie gar keine Welt ist, sondern eher der Beschreibung eines Hobbschen Naturzustandes gleicht, sei den Europäern vollkommen realitätslos erschienen und habe „dadurch das Verbrechen selbst in ein konsequenzloses irreales Spiel verwandelt [... ].“ Der Anblick dieser angeblich so geschichts- und realitätslosen Welt degradierte die Menschen in Afrika in den Augen der Europäer auf etwas Nichtmenschliches: „Auch auf das Entsetzen vor dem Treiben (sic) der Eingeborenen übertrug sich die schemenhafte, gespenstische Qualität und durchsetzte und zersetzte es mit einer sinnlosen und komischen Groteskheit. Man mordete keinen Menschen, wenn man eine Eingeborenen erschlug, sondern ein Schemen, an dessen lebendige Realität man ohnehin nicht glauben konnte, und man handelte nicht in eine Welt hinein, sondern in ein ‚bloßes Spiel von Schatten‘.“(5) Arendts Eurozentrismus Es ist Arendts eurozentristischer Blick, der ihre Wahrnehmung der „Urbevölkerung“ Afrikas leitet. Sie stellt die Zivilisiertheit der europäischen Völker gegen das geradezu als tierhaft beschriebene Verhalten der Schwarzen hervor. Das, was für Arendt überhaupt erst menschliche Geschichte ermöglicht, was die dem Menschen gemäße politische Organisation ist, findet sie z. B. in den Beschreibungen Joseph Conrads Das Herz der Finsternis, das ihr als authentische Quelle dient, nicht. Die Bevölkerung Afrikas ist weltlos, weil sie kein festes politisches Gefüge auf festem Grund und Boden zu errichten im Stande gewesen sei. Arendt schreibt über die sukzessive ‚Degeneration‘ der Buren, die sich der englischen Herrschaft zu entledigen versuchten: „Die Beziehung zu einem bestimmten Boden, zu der patria, welche ein Volk als einen politischen Körper konstituiert, war bei ihnen [den Buren, d. Verf. ] von vornherein durch eine reine Stammesgebundenheit ersetzt worden, die aufs Genaueste der Stammesgebundenheit der Eingeborenen entsprach, die seit Jahrhunderten den Kontinent durchzogen, ohne es je zur Ansiedlung und Volkwerdung gebracht zu haben.“(6) Wenn Arendt also über den Schrecken der ersten und nachfolgenden Siedler angesichts der Urbevölkerung schreibt, dann scheint sie genauso auch ihrem eigenen Schrecken Ausdruck zu verleihen. Denn für sie sind die „Rassen“ Afrikas und Australiens „bis heute die einzigen ganz geschichts- und tatenlosen Menschen, von denen wir wissen, [... ] die sich weder eine Welt erbaut noch die Natur in irgendeinem Sinne in ihren Dienst gezwungen haben.“(7) Sie spricht von der „katastrophenhaften Einförmigkeit ihrer Existenz“ und versucht, die rassistischen Reaktionen als Reaktion auf die „katastrophale Unterlegenheit und Zugehörigkeit zur Natur, der sie keine menschliche Welt entgegensetzen konnten“(8), zu erklären.
„Weder menschliche Vernunft, noch Empfindungen“ Arendt vollzieht hier die eurozentristische Sichtweise auf die „prähistorischen Menschen“(9) Afrikas nach, mit der die Europäer auf die Menschen der neu eroberten Gebiete reagieren: „Der biblische Mythos von der Entstehung des Menschengeschlechtes wurde auf eine sehr ernste Probe gestellt, als Europäer in Afrika und Australien zum ersten Male mit Menschen konfrontiert waren, die von sich aus ganz offenbar weder das, was wir menschliche Vernunft, noch was wir menschliche Empfindungen nennen, besaßen, die keinerlei Kultur, auch nicht eine primitive Kultur hervorgebracht hatten, ja, kaum im Rahmen feststehender Volksgebräuche lebten und deren politische Organisation Formen, die wir auch aus dem tierischen Gemeinschaftsleben kennen, kaum überschritten.“(10) Arendt führt den Rassismus auf den Schrecken der Europäer als Reaktion auf die angebliche Schwäche und Unzivilisiertheit des anderen zurück und sieht nicht umgekehrt die Abscheu vor dem Fremden als die eigene Schwäche der Europäer an. Mit ihrer These über die Bedeutung des ursprünglichen Erfahrungsgehaltes des Rassismus unterscheidet sich Arendt von Autoren wie Zygmunt Bauman oder Adorno und Horkheimer. Bauman legt den Ursprung des Rassismus in die moderne Gesellschaft selbst zurück, in ihr endloses Streben nach Ordnung und Eindeutigkeit sowie in ihrem stetigen Eifer, alles Ambivalente auszuschalten. Dieses sind die Spezifika der Moderne, die sich bei Bauman durch den unbedingten Willen zur Planung, Kontrolle und Einebnung jeglicher Unterschiede auszeichnet. Alles, was sich der Eindeutigkeit und der Beherrschbarkeit entzieht, wird zum Defekt erklärt, den es zu beheben, d.h. letztlich zu vernichten gelte. (11) Eigene Projektionen und Hass auf die anderen Ebenso erkennen Horkheimer und Adorno im Gegensatz zu Arendt in der Dialektik der Aufklärung im Fortschritt der Zivilisation einen gegen das Individuum gewalttätigen, es zurichtenden Prozess. Mit dem Prozess der Zivilisation einher geht nach Adorno und Horkheimer die Unterdrückung eigener Triebe und Regungen. Das, was bei sich selbst nicht zugelassen und unterdrückt wird, wird dann auf den Anderen projiziert und an ihm gehasst. Die Abwertung des Anderen ist damit die Folge eines innerpsychischen Konfliktes, bei dem das am Anderen verachtet und herabgesetzt wird, was einem selbst vertraut und dennoch fremd erscheint, weil es im Laufe der Zivilisation unterdrückt wurde: „Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: dem prospektiven Opfer." (12) Mit Abstoßung auf etwas Fremdes und Unbekanntes zu reagieren, hat damit seinen Ursprung im modernen Individuum selbst. Somit ist, anders als bei Arendt, nicht der Fremde derjenige, der Ursache des Abstoßes ist, sondern eigene unterdrückte Gedanken und Gefühle. (13) Vielleicht ist Arendt hier – ohne ihre rassistischen Äußerungen relativieren zu wollen – Opfer ihrer eigenen politiktheoretischen Überzeugungen geworden. Sie versucht in dem Kapitel über „Die Gespensterwelt des Schwarzen Erdteils“ dem Rassismus einen rationalen Kern zuzusprechen. Das heißt, dass für sie der Rassismus kein reines Konstrukt und nicht nur den Interessen der Europäer geschuldet ist, sondern auf durchaus Reales, auf Erfahrungen der mit dem Rassismus Gemeinten zurückgeht. Interessanterweise kann man nämlich die Überzeugung, dass rassistische und antisemitische Ideologien auf reale Erfahrungen zwischen Minderheit und Mehrheit, zwischen den als „normal“ bzw. „höherwertig“ und den als „anders“ bzw. „minderwertigen“ Definierten, in ihrer Auseinandersetzung mit dem europäischen Antisemitismus wieder finden. Die Überzeugung, dass Juden nicht lediglich Sündenböcke der sie umgebenden christlichen Gesellschaft geworden seien, sondern dem modernen antijüdischen Vorurteilen, Meinungen und Weltanschauungen ein realer politischer und gesellschaftlicher Konflikt zugrunde liege, prägt auch ihren Antisemitismusbegriff in signifikanter Weise. Der moderne Antisemitismus Besieht man sich Arendts Annäherung an das Phänomen des modernen Antisemitismus, stößt man auf ähnliche argumentative Muster, die sich bei eingehender Betrachtung als Kernstück ihrer politischen Theorie lesen lassen. Arendt verortet den Beginn des modernen Antisemitismus in die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, in die politischen Diskussionen um die politische und rechtliche Gleichstellung der Bürger. Innerhalb dieser Auseinandersetzungen erhielten, so Arendt, Juden von vornherein eine Sonderstellung – und hier verortet Arendt den Ursprung des politischen Antisemitismus. In der Phase der widersprüchlichen politischen Emanzipation seien es nicht nur die antijüdischen Vorurteile, welche die Emanzipation von Juden verzögern, sondern die „Vorrechte und Privilegien, die einzelne Juden lange vor der Emanzipation genossen“(14) – damit spielt Arendt auf die Rolle des Hofjudentums des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts an. Der Ausnahmeposition von Juden und ihr besonderes Verhältnis zum Staat stehe nach Arendt die durch den Nationalstaat entstehende Trennung zwischen Staat und Gesellschaft entgegen. Solange Juden eine „Nation in der Nation“(15) bildeten, erstarke Arendts Schriften zufolge der politische Antisemitismus. Er richtet sich gegen die politische Emanzipation einer außerhalb der Gesellschaft stehenden Gruppe, also ganz konkret gegen die Gleichberechtigung von Juden als Juden, von Juden als Besondere. Mit der rechtlichen und politischen Gleichstellung, so Arendt, stießen der Mehrheitsgesellschaft die Unterschiede stärker auf, weil man sich nun damit konfrontiert sah, diejenigen als Gleiche anerkennen zu müssen, mit denen man doch gar nicht als Gleiche angesehen werden wollte. Und eben diese Argumentation kann man auch in Arendts Rassismuskapiteln finden, denn nach Arendt bestand der Schrecken der Europäer auch darin, jemanden als Menschen anerkennen zu müssen, der doch so fremd erschien: „In ihnen [den Buren, d. Verf. ] lebt vermutlich heute noch der erste grauenhafte Schrecken, der ihre Vorväter in die Barbarei gezwungen hatte, der Schrecken vor den Menschen Afrikas – die tiefe Angst vor einem fast ins Tierhafte, nämlich wirklich ins Rassische degenerierten Volk, das doch trotz seiner absoluten Fremdheit zweifellos eine Spezies des homo sapiens war. [... ] Es ist das Grauen vor der Tatsache, daß dies auch noch Menschen sind, und die diesem Grauen unmittelbar folgende Entscheidung, daß solche ‚Menschen‘ [Arendt setzt hier Anführungszeichen! ] keinesfalls unseresgleichen sein durften.“(16) Die Weigerung, diejenigen, die über Jahrhunderte die Anderen waren, als politisch Gleiche anzuerkennen, gibt dem modernen Antisemitismus seine spezifische Schärfe. Er gründet bei Arendt in realen gesellschaftlichen, politischen, rechtlichen und individuellen Unterschieden zwischen Juden und Nicht-Juden und der damit in Konflikt geratenden Entwicklung im neunzehnten Jahrhundert, alle Unterschiede anzugleichen oder, wie sich im weiteren geschichtlichen Verlauf zeigen sollte, als krankhaft zu brandmarken und dann auszurotten. Arendt bindet also den Ursprung des modernen Antisemitismus an konkrete erfahrbare Konflikte zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft. Der Ursprungskonflikt des modernen Antisemitismus liegt für Arendt demnach in der Weigerung der Mehrheitsgesellschaft, gesellschaftlich Ungleiche als Gleiche anzuerkennen – aber auch, und das ist für ihre weitere Argumentation wichtig, weil Juden Juden bleiben und sich nicht assimilieren wollten. Ohne Juden die Schuld am Antisemitismus zu geben, so weigert Arendt sich doch, die Geschichte des Antisemitismus als reine Opfergeschichte zu erzählen. Sie will Juden als Handelnde und Mithaftende in die Geschichte zurückholen. Vollkommene Entkopplung Sie betont diese Möglichkeit des Handelns deswegen so stark, weil sie die Anfänge des Antisemitismus von den im wahrsten Sinne des Wortes unmenschlichen Verbrechen in Auschwitz absetzen möchte. Unmenschlich insofern, als mit den Verbrechen in Auschwitz nicht nur die Menschen als Individuen mit eigener Geschichte ermordet worden sind, sondern weil in Auschwitz Menschen als Menschen vernichtet wurden. Alles das, was Arendt zufolge die Menschen als Menschen auszeichnet, ist in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten systematisch vernichtet worden. Juden waren jegliche Handlungsmöglichkeiten versagt worden. Verhaftet und ermordet wurden sie nicht aufgrund ihrer Handlungen oder Meinungen und Aussagen, sondern aufgrund einer rassistischen Festlegung, aus der es kein Entkommen gibt. Weder Erfahrung noch Realität kommen gegen diesen vollkommen irrationalen Antisemitismus an, er hat sich von der Wirklichkeit und damit auch von seinem anfänglich noch rationalen Kern vollkommen gelöst. Fazit Der Versuch also, in den später von aller Erfahrung vollkommen entkoppelten Ideologien ein anfängliches rationales Element herauszukristallisieren, um es damit von den unmenschlichen Verbrechen abzusetzen, bestimmt auch Arendts Rassismusbegriff. Ebenso wie Arendt den modernen Antisemitismus – zumindest in seinen Anfängen – nicht als ausschließlich fiktives, mithin vollkommen irrationales Hirngespinst der Antisemiten versteht, versucht sie auch das erste Auftreten rassistischen Denkens an Erfahrungen rückzukoppeln. Allerdings besteht der große Unterschied zwischen den Herangehensweisen an den Rassismus und den modernen Antisemitismus darin, dass sie zwar den Rassismus auf anfängliche Erfahrung zurückführt (wie eben den Antisemitismus auch), die schwarze Urbevölkerung jedoch nicht als Handelnde darstellt, sondern einzig die eurozentristische Sicht der Eroberer nachvollzieht. Der afrikanischen „Urbevölkerung“ wird keine Eigenständigkeit, keine eigene Stimme gegeben. Sie erscheinen als Nicht-Menschen und so bestätigt Arendt in ihrer Argumentation vielmehr die Sicht der Kolonisatoren, als dass sie sie genauso kritisch beleuchtet wie das Verhalten der Mehrheitsgesellschaft den Juden im neunzehnten Jahrhundert gegenüber. Julia Schulze Wessel, 03.02.2007 Anmerkungen
Hannah Arendt im Internet-Lexikon Wikipedia Foto:
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