Das Interview erschien zuerst in der iz3w-Ausgabe 314 (September/Oktober 2009)
siehe auch:
David Siebert: Tanztheater in
Straßburg - Kolonialgeschichte im HipHop-Stil
Badische Zeitung (15.12.2009) |
A nos morts – die vergessenen Befreier
22.
März 2011 in Freiburg im E-Werk, 19.30 Uhr / Schulvorstellung (ab 14 Jahren): 11 Uhr
»Die Geschichte hat mich eingeholt« - Interview mit dem Hiphop-Musiker Yan Gilg über sein Stück »A nos morts«
Karl Rössel:
Die Geschichte der Kolonialsoldaten, der »Tirailleurs«, ist in
Frankreich wie in Deutschland nahezu vergessen. Wie seid Ihr auf die
Idee gekommen, das Thema als Hiphop-Tanztheater auf die Bühne zu
bringen?
Yan Gilg:
Man kann sagen, dass mich die Geschichte eingeholt hat. Ich war 35
Jahre alt, als ich in Straßburg dem bekannten marokkanischen Sänger
Reda Bouchenak begegnete. Er stammt wie der Hauptdarsteller des Films
»Indigènes«, Jamel Debbouze, aus Oujda und erzählte mir damals von den
Dreharbeiten des algerischen Regisseurs Rachid Bouchareb zu diesem
Film. Wir haben daraufhin einen Song über die »Tirailleurs« geschrieben
mit dem Titel »Unbekannte Soldaten«. Er ist auch auf unserer CD zu
finden. Bei der Arbeit daran wurde mir aber klar, dass ich von diesem
Thema eigentlich überhaupt keine Ahnung hatte. Ich habe dann im
Internet unter dem Stichwort »Tirailleurs« gesucht und eine Nacht damit
verbracht, alles, was ich fand, auszudrucken. Als mir der enorme
Beitrag bewusst wurde, den Kolonialsoldaten für die Befreiung
Frankreichs geleistet haben, empfand ich es als unglaublich, dass ich
bis dahin nichts davon gehört hatte.
Hast Du bei den Recherchen mit HistorikerInnen zusammen gearbeitet?
Da ich eher Hiphop-Künstler bin als Theatermensch, hatte ich zunächst
nur vor, ein Album zum Thema zu produzieren. Aber dann stieß ich auf
Informationen über afrikanische Soldaten im Ersten Weltkrieg und ihre
Beteiligung an der Schlacht um den Chemin des Dames 1917, auf
Résistance-Kämpfer wie Hady Bah aus Guinea, auf de Gaulles afrikanische
Armee im Zweiten Weltkrieg und deren Landung in der Provence. |
»Die vergessenen Befreier« (A nos morts). Hiphop-Tanztheater in Erinnerung an die französischen Kolonialsoldaten von Compagnie Mémoires Vives (Straßburg) in französischer Sprache mit deutschen Untertiteln.
Mit Yan Gilg, Farba Mbaye, Maeva Heitz, Sovannak Nam, Ibrahima M’Bodji, Christophe Roser, Yassine Allouache, Mickaël Stoll.
Die Deutschlandpremiere ist am 20.9. um 20.00 Uhr im Haus der Berliner Festspiele,Schaperstraße 24, 10719 Berlin, www.berlinerfestspiele.de
Mit
Hiphop-Songs und poetischen Texten, Break-Dance und einer hinreißenden
Choreograhie vor historischen Fotos und Filmausschnitten erinnert die
zeitgenössische Performance »A nos morts« an die Millionen Soldaten aus
den französischen Kolonien, die 1914-18 an vorderster Front für
Frankreich gekämpft haben und die im Zweiten Weltkrieg mithalfen,
Europa vom Faschismus zu befreien. Heute weitgehend vergessen, erweist
ihnen das Projekt »Mémoires Vives« aus den Straßburger Banlieues seinen
Respekt, indem es ein bedeutendes, aber verdrängtes Kapitel der
Geschichte in moderner Form auf die Bühne bringt.
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So
entstand die Idee zu einem Theaterstück. Dafür brauchte ich allerdings
einen breiteren historischen Background. Also habe ich mir zunächst
Dokumentarfilme besorgt wie »C’est nous les Africains... Eux aussi ont
liberé l’Alsace« von Jean Marie Fawer, »Baroud d’Honneur« von Grégoire
Georges-Picot, »La Couleur du Sacrifice« von Mourad Boucif und »Les
Oubliers de l’Histoire« von Daniel Kupferstein. Dann habe ich in
den Archiven des Verteidigungsministeriums nach historischen Fotos
gesucht. Ich war mir sicher, dass sie für sich selbst sprechen, wenn
man sie nur öffentlich zeigt. Schließlich habe ich Historiker um Hilfe
gebeten wie Pascal Blanchard, Eric Deroo, Nicolas Bancel und Recham
Belkacem. So entstand eine künstlerische Arbeit, die wesentlich auf
historischen Arbeiten und Dokumenten beruht.
Hast
Du die Form einer Hiphop-Performance eher aufgrund Deines persönlichen
künstlerischen Backgrounds gewählt oder weil sie den musikalischen
Vorlieben der dritten Generation von MigrantInnen entspricht, den
Nachfahren der »Tirailleurs«? Aus beiden Gründen. Es gibt aber
noch einen dritten. Wir sind Hiphop-KünstlerInnen und Hiphop ist unsere
Kultur. Aber Hiphop ist eine Musik, die im Exil geboren wurde, die an
die Deportation von AfrikanerInnen nach Amerika erinnert und an deren
Migration nach Europa. Es ist eine Kultur, die sich aus dem Leid von
Bevölkerungsgruppen entwickelt hat, die aus der Dritten Welt stammen.
Manchen erscheint Hiphop deshalb als eine minderwertige Kultur, eine
Kultur von Fremden, von »Negern«. Wurden Indigene in der
Kolonialgeschichte oft mit wilden Tieren verglichen, so wird auch die
Kultur ihrer Nachfahren, der Hiphop, oft verächtlich als Musik von
»Wilden« dargestellt. Dem wollen wir etwas entgegensetzen, indem wir
die Geschichte der MigrantInnen und ihrer Vorfahren mit Hiphop erzählen.
MigrantInnen stellen auch die meisten SängerInnen und TänzerInnen in dem Stück.
Ja, ich wollte die Kolonialarmee symbolisch auf die Bühne bringen und
habe deshalb Darsteller aus Ländern des subsaharischen Afrikas, des
arabisch-berberischen Maghrebs und aus Asien gesucht. Daneben sollten
unbedingt auch Frauen auftreten. Denn die Rolle, die Frauen etwa in der
Résistance oder in den Streitkräften und Waffenfabriken gespielt haben,
ist in der von großen weißen Männern geprägten Geschichtsschreibung
ebenso vergessen. Aber ich habe nicht ausschließlich mit
professionellen SchauspielerInnen gearbeitet. Schließlich bin ich auch
Sozialarbeiter und zu meiner Arbeit gehört, talentierten Menschen, die
bisher nicht die Möglichkeit hatten, sich künstlerisch auszudrücken,
Gelegenheit dazu zu bieten. So sind einige über das Abenteuer »A nos
morts« zu Profis geworden.
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