Deutsche Missionen
Der Kolonialrevisionismus und seine KritikerInnen in der Weimarer Republik
von Susanne Heyn *
Für eine koloniale Revision setzten sich in der Weimarer Republik die Regierungen, VertreterInnen fast aller Parteien, eine Vielzahl kolonialer Verbände und Vereine sowie am Überseehandel beteiligte Firmen und Banken ein. Die Kolonialbewegung war zwar keine Massenbewegung, aber ihre in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft einflussreichen VertreterInnen hielten den kolonialen Diskurs jahrzehntelang aufrecht. Dem Kolonialrevisionisten Hans Zache zufolge umfasste die Kolonialbewegung 1926 rund 80.000 Personen.1 Aufgrund von Mehrfachmitgliedschaften ist jedoch zu vermuten, dass die tatsächliche Mitgliederzahl geringer war.
Noch vor der Unterzeichnung des Versailler Vertrages protestierte die Nationalversammlung im März 1919 gegen die von ihr als Annexion bewertete Übernahme der deutschen Kolonien durch die vom Völkerbund eingesetzten Mandatare, unter ihnen Frankreich, Großbritannien und die Südafrikanische Union.2 Mit Ausnahme der KPD und USPD vertraten alle Parteien kolonialrevisionistische Forderungen – ein Konsens, der vor 1914 nicht existiert hatte. Da sich die beabsichtigte Rückgewinnung der deutschen Kolonien als schwieriges und langwieriges Unterfangen abzeichnete, blieb diese parteienübergreifende Einigkeit während der gesamten Weimarer Republik bestehen. Große kontroverse Reichtagsdebatten zur Kolonialfrage, wie diese noch im Kaiserreich stattgefunden hatten, gab es nur selten. Die Außenpolitik der Weimarer Regierungen war auf koloniale Revisionsforderungen gerichtet, allerdings verhielten sich die Minister in dieser Angelegenheit im Zweifelsfall strategisch. So veranlasste der von 1923 bis 1929 amtierende Außenminister Gustav Stresemann im April 1924 die Einrichtung einer Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt und bestätigte die neu erarbeiteten Richtlinien der Kolonialpolitik, behandelte die Kolonialfrage auf internationalem Parkett allerdings eher zurückhaltend. Auch seine Nachfolger ließen koloniale Forderungen gegenüber Themen wie Reparationen und Aufrüstung überwiegend in den Hintergrund treten.
Im Parteienspektrum trat die rechtsliberale Deutsche Volkspartei (DVP), der mit Heinrich Schnee einer der wichtigsten Kolonialpropagandisten der Weimarer Republik angehörte, am energischsten für den Kolonialrevisionismus ein. Sein in mehrere Sprachen übersetztes und vom Auswärtigen Amt unterstütztes Buch Die koloniale Schuldlüge aus dem Jahr 1924 kann als zentrale Kampfschrift der Kolonialbewegung angesehen werden. Bis auf KPD und USPD stellten alle anderen Parteien, wenn auch mit weniger Engagement, durchweg kolonialrevisionistische Forderungen. Die große Mehrheit der SPD setzte sich zwar ebenfalls gegen Kolonialpolitik ein, jedoch gab es seitens des Parteivorstandes und der Reichstagsfraktion keinen Widerstand gegen die Übertragung eines Völkerbundmandates. Vertreter des Parteivorstandes traten auf der Konferenz der Sozialistischen Internationale in Luzern im August 1919 mit Erfolg für eine Änderung der 1907 in Stuttgart erlassenen antikolonialen Resolution ein. In der neuen Resolution wurden die Aufrechterhaltung des Kolonialsystems in veränderter Form und ein potentieller Mandatserwerb für Deutschland gefordert.3 Einige Mitglieder des rechten Flügels unterstützten den Kolonialrevisionismus sogar offensiv.
Fotos: Kolonialverherrlichung mit Sammelklebebildern: Cigaretten-Bildersammeldienst Dresden 1936
Parallel zu diesem parteipolitischen Engagement betrieb ein breites Spektrum von Organisationen auf außerparlamentarischem, akademischem, kulturellem und karitativem Gebiet kolonialrevisionistische Agitation oder leistete für die aus den Kolonien zurückkehrenden sogenannten Kolonialdeutschen Wohlfahrtsarbeit. Die wichtigste und mitgliederstärkste Organisation der Kolonialbewegung war die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG), der die ehemaligen Gouverneure Theodor Seitz (1920-1930) und Heinrich Schnee (1930-1936) als Präsidenten vorstanden. Im September 1922 initiierte die DKG die Gründung der Kolonialen Reichsarbeitsgemeinschaft (Korag) zur Bündelung und Koordination aller kolonialen Kräfte. Während einige ihrer Mitgliedsgruppen ihren Ursprung bereits im Kaiserreich hatten, gründeten sich andere erst in der Weimarer Republik. Zum engeren Kreis der Korag gehörten neben der DKG unter anderen der Deutsche Kolonialkriegerbund, eine Vereinigung von Kolonialsoldaten und Kolonialdeutschen, der Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft und der Frauenverein vom Roten Kreuz für Deutsche über See als vornehmlich kulturelle und karitative Verbände, das Kolonialwirtschaftliche Komitee zur Förderung der kolonialen Wirtschaft und die Vereinigung für deutsche Siedlung und Wanderung, eine private Beratungsstelle für Auswanderung.
Die Kolonialbewegung umfasste desweiteren Wohlfahrtsvereinigungen, Jugendorganisationen, akademische Gruppierungen sowie Verbände, die sich hauptsächlich der Erinnerungsarbeit an die koloniale Vergangenheit verschrieben hatten.
Mobilisierung für die Kolonien
Ungeachtet der vielen außenpolitischen Enttäuschungen in der Weimarer Republik verfolgte die kolonialrevisionistische Bewegung vehement das Ziel, die ehemaligen Kolonien zurück zu gewinnen. Nach dem traumatischen Erlebnis des verlorenen Weltkrieges und den krisenhaften Nachkriegsjahren versuchte sie die deutsche Bevölkerung in diesem gemeinsamen Kampf zu einen. Die Kolonialbewegung deckte dabei vielfältige Aufgabenbereiche ab: Beratung von EmigrantInnen in Kolonialgebiete, Wirtschaftsförderung, Repräsentation von Kolonialansprüchen, koloniale Wissenschaft sowie Fürsorge für das koloniale Schul- und Wohlfahrtswesen.4 Durch Vorträge, Filme, koloniale Publikationen,5 Ausstellungen und jährliche Kolonialkongresse leistete sie kontinuierlich Öffentlichkeitsarbeit. Um der kolonialen Vergangenheit zu gedenken, hielten die KolonialrevisionistInnen regelmäßig öffentliche Feierlichkeiten ab. Sie weihten etwa in Braunschweig, Bremen und Breslau koloniale Denkmäler ein und boten auf Handelsmessen Kolonialprodukte an, die auf die Notwendigkeit deutscher Kolonien hinweisen sollten.
Darüber hinaus fanden einige Großereignisse statt, die teilweise in Kooperation mit Regierungsvertretern durchgeführt wurden. Auf Massenkundgebungen im Februar und März 1919 forderten Teile der Bevölkerung die deutschen Kolonien zurück. Im September 1924 organisierte die DKG als Zeichen ihrer Konsolidierung zum 40. Jahrestag des Beginns der deutschen Kolonialherrschaft einen Kongress in Berlin, um für ihre Ideen zu werben. Einen Höhepunkt ereichten die Aktivitäten der Kolonialbewegung im Vorfeld der Verhandlungen zum Völkerbundsbeitritt Deutschlands im September 1926. Mit mehreren hundert Veranstaltungen und Vorträgen, kolonialen Filmen, ca. 1,5 Millionen Flugblättern sowie Artikelveröffentlichungen in über einhundert Zeitungen versuchte sie Unterstützung zu mobilisieren. Briefklebemarken, koloniale Bildpostkarten, Werbeplakate und Wanderausstellungen sollten diese Aktivitäten abrunden.6 Auf der internationalen Presse-Ausstellung Pressa in Köln im Juni 1928 fand eine Koloniale Sonderschau statt, in deren Rahmen die DKG das Allgemeine deutsche Kolonialprogramm vorstellte. Dies hatte einen dreifachen Zweck: »[...] die Einheit der Kolonialbewegung in ihren Methoden und Zielen bekannt zu geben, eine Verständigungsbasis mit den der Kolonialen Bewegung noch fernstehenden deutschen Bevölkerungsschichten und Parteien zu schaffen und eine Verhandlungsunterlage für die Lösung des Kolonialproblems in Gemeinschaft mit dem Auslande herzustellen.«7
Die kolonialrevisionistischen Forderungen erfuhren jedoch seit spätestens Mitte der 1920er Jahre bei der Mehrheit der Bevölkerung keine Verankerung mehr. Zu jener Zeit hatten die breiten Proteste gegen die Bedingungen des Versailler Vertrages, in deren Rahmen die KolonialrevisionistInnen ihre Forderungen hatten verankern können, nachgelassen. So bezeichnete sich die Kolonialbewegung fortan in ihrer Selbstdarstellung häufiger als »Kampforganisation«, die bei der Durchsetzung ihrer kolonialrevisionistischen Forderungen auf hohe Mitgliederzahlen verzichten könne. Dieser mangelnde Rückhalt sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kolonialismus gerade in der Alltagskultur – sei es in Form der Kolonialwarenläden oder durch koloniale Werbebilder – starker Bezugspunkt blieb und sich darüber rassistische Denkweisen manifestierten.8
Die fehlende Rückbindung in der Bevölkerung und die sich wiederholenden Enttäuschungen durch die koloniale Regierungspolitik führten seitens der Kolonialbewegung dazu, dass sich Teile ihrer AkteurInnen der NSDAP zuwandten. Aufgrund sich überschneidender Zielsetzungen im Sinn von zu eroberndem »Lebensraum« hofften die KolonialrevisionistInnen, die Partei für ihre Sache gewinnen zu können. Spätestens ab 1930 reagierte die Führungsriege der DKG auf den Machtzuwachs der NSDAP und vollzog ab 1932 den Schritt einer organisatorischen, personellen und ideologischen Anpassung an die NSDAP. Dass diese ihre imperialistischen Vernichtungsfeldzüge gen Osten plante, mussten die KolonialrevisionistInnen letztlich hinnehmen.
Das kolonialkritische Spektrum
Auf die kolonialrevisionistischen Forderungen reagierten kolonialkritische Organisationen spätestens seit Mitte der 1920er Jahre: Innerhalb der Frauenbewegung positionierte sich unter anderem die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFLFF) gegen den Kolonialrevisionismus. Die der Komintern angehörende Liga gegen koloniale Unterdrükkung (LgkU) verfolgte eine durchweg antikoloniale Programmatik. In pazifistischen Publikationen wurde über kolonialkritische Aktivitäten berichtet. Die Gewerkschaften diskutierten in der Zeitschrift Gewerkschafts-Archiv über die Kolonialproblematik. Und auch humanitär und menschenrechtlich engagierte Intellektuelle widmeten sich kolonialen Fragen, beispielsweise in der Weltbühne.
Die KolonialkritikerInnen lassen sich reformerischen und explizit antikolonialen Organisationen zuordnen. Während erstere Kolonialpolitik nicht generell ablehnten, sondern sie in Form des Mandatssystems des Völkerbundes akzeptierten, wie beispielsweise die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG), kritisierten antikoloniale Gruppierungen, unter ihnen die IFLFF, die LgkU und der Bund Entschiedener Schulreformer (BES), grundsätzlich jede Form von Kolonialismus. Für die Mehrheit der Gruppierungen umfassten kolonialkritische Aktivitäten indes nur einen Teil ihres Arbeitsfeldes.
Protest gegen die kolonialrevisionistischen Aktivitäten fand unter anderem in Form von Demonstrationen, Ausstellungen und Petitionen statt. Die IFLFF organisierte in den Jahren 1924 und 1925 Kundgebungen gegen die Wiedererlangung des deutschen Kolonialbesitzes. Die LgkU veranstaltete in Kooperation mit dem Bund der Kriegsdienstgegner (BdK) und dem BES im Januar 1927 in Berlin eine große Kundgebung für die »Weltemanzipation der farbigen Rassen«. Als internationaler Redner geladen war unter anderem William Pickens, afro-amerikanischer New Yorker Professor und zugleich Sekretär der US-amerikanischen Association for the Advancement of Coloured People. Die Veranstaltung endete mit folgendem Statement: »Die Kolonialmandate des Völkerbundes sind kein Fortschritt, sondern Verschleiern nur die Tatsache der Entrechtung. Die Freiheitsberaubung ganzer Völker durch den Imperialismus verewigt die Gefahr neuer Kriege, die früher oft aus dem Kolonialneid der Staaten entstanden, neuerdings aber immer häufiger aus der berechtigten revolutionären Empörung der ausgebeuteten und rechtlosen farbigen Völker hervorgehen. Die farbigen Rassen – Japaner, Chinesen, Inder, amerikanische und afrikanische Neger – haben bewiesen, daß sie in der Freiheit den Weißen intellektuell und moralisch gleichwertig sind.«9
Die Aktivitäten der LgkU blieben nicht unbeobachtet. Das Reichsministerium des Inneren ließ sie durch die Polizei überwachen. Zudem hatte sich Alfred Mansfeld, der der Deutschen Gesellschaft für Eingeborenenkunde angehörte und dem rechten Flügel der SPD nahe stand, als Spitzel angeboten und lieferte dem Auswärtigen Amt Informationen.10
Die IFLFF protestierte gegen Kolonialwerbung in Bahnhöfen und gegen die sogenannten Völkerschauen. In Zusammenarbeit mit anderen Organisationen versuchte sie zudem mit Eingaben an den preußischen Unterrichtsminister der Verbreitung kolonialen Gedankenguts an Schulen Einhalt zu gebieten. Der Minister wandte sich zwar gegen propagandistische Lehreinheiten über den deutschen Kolonialismus, schien sich aber nicht durchsetzen zu können oder zu wollen. Kolonialimperialistische Themen wurden zunehmend auch auf internationalen Tagungen und Kongressen kritisch diskutiert, beispielsweise auf den Weltfriedenskongressen (der Jugend) und auf Zusammenkünften der Frauenbewegung. Ein historisches Novum waren jene Veranstaltungen, an denen VertreterInnen der kolonisierten Länder teilnahmen und damit für sich selbst sprechen konnten. Im Februar 1927 fand in Brüssel der von der LgkU initiierte Kongress gegen koloniale Unterdrückung und Imperialismus statt. Ihm folgte ein zweiter anti-imperialistischer Weltkongress im Juli 1929 in Frankfurt am Main. Dort entstanden Kontakte, die als punktuelle Anfänge einer sich entwickelnden direkten weltweiten Solidarität gewertet werden können. All diese kolonialkritischen Gruppierungen erreichten zwar nicht das Ziel, die kolonialrevisionistischen Aktivitäten zu unterbinden. Sie setzten jedoch dem kolonialrevisionistischen Diskurs kolonialkritische und antikoloniale Positionen entgegen.
Eine große Kulturnation
Die KolonialrevisionistInnen begründeten ihren Kampf für die Wiedererlangung der deutschen Kolonien mit ökonomischen, demographischen und sozialpolitischen Argumenten. Sie beharrten darauf, dass zur Konsolidierung der Nachkriegswirtschaft eigene Kolonien als Rohstoff- und Absatzgebiete nötig seien. Daran war ihrer Ansicht nach auch die Erfüllung der Reparationszahlungen gebunden. Die Mehrheit der KolonialrevisionistInnen lehnte Konzepte ab, die eine Politik der lediglich wirtschaftlichen Durchdringung überseeischer Länder forderten. In den demographischen und sozialpolitischen Argumenten beriefen sich die KolonialrevisionistInnen unter anderem auf völkische Positionen und die damals als Wissenschaft anerkannte sogenannte Eugenik. Sie gingen von der Überbevölkerung Deutschlands aus und forderten daher neuen »deutschen Lebensraum« für die auswandernde Bevölkerung. Durch diese gesteuerte Auswanderung sollte die von ihnen prophezeite »Degeneration des deutschen Volkes« insofern verhindert werden, als die TrägerInnen »hochwertigen Erbguts« auf deutschen Territorien verblieben und damit einer sich über die Grenzen der Weimarer Republik erstreckenden »deutschen Volksgemeinschaft« nicht verloren gingen.
Solche sozialdarwinistischen Argumentationsketten wiederum versuchten viele KolonialkritikerInnen mit den aus der deutschen Kolonialherrschaft gewonnen Erfahrungen zu widerlegen, denen zufolge die Kolonien weder als Rohstoff- und Absatzgebiete noch als Auswanderungsterritorien eine große Rolle gespielt hatten. Sie sahen daher keine ökonomischen und demographischen Notwendigkeiten für deutschen Kolonialbesitz. Allerdings waren die KolonialkritikerInnen darauf bedacht, Deutschland in Form der »Politik der offenen Tür« einen mit den anderen Kolonialmächten gleichberechtigten Zugang zu den Kolonialgebieten zu verschaffen.
Auf die deutsche Kolonialvergangenheit nahmen die KolonialrevisionistInnen einen verklärenden und verherrlichenden Bezug. Die kolonialen Gewaltverhältnisse thematisierten sie nicht, und die Opferzahlen der Kolonisierten relativierten sie in Vergleichen mit anderen europäischen Kolonialmächten. Die KolonialrevisionistInnen versuchten, dem von den Siegermächten erhobenen Vorwurf der verfehlten Kolonialpolitik11, den sie selbst als »koloniale Schuldlüge« betitelten, damit zu begegnen, dass sie die vermeintlichen kulturellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Leistungen des deutschen Kolonialismus betonten. Die Kolonisierten stellten sie als ihre Hilfe benötigende »treue Eingeborene« dar. Ausgehend davon konstatierten die KolonialrevisionistInnen, dass Deutschland weiterhin zu den großen »Kulturnationen« gehöre und forderten daher die Teilhabe am europäischen Imperialismus.
Die KolonialkritikerInnen nahmen wenig Bezug auf den Kampf gegen die »koloniale Schuldlüge«. Sie kritisierten die direkte Kolonialherrschaft als unterdrückerisches Herrschafts- und Gewaltverhältnis, das Ausbeutung und Zerstörung der kolonisierten Gesellschaften zur Folge gehabt hatte. Während die radikal antikolonialen KritikerInnen jegliche weitere Ausübung von Kolonialherrschaft als ungerechtfertigt ablehnten, waren die Gemäßigten indes davon überzeugt, dass Gesellschaften, die ihrer Ansicht nach zur Selbstregierbarkeit nicht fähig seien, der Anleitung durch EuropäerInnen bedürften. Das Argument der kulturmissionarischen Pflichterfüllung lässt sich daher sowohl bei den KolonialrevisionistInnen als auch bei Teilen der KolonialkritikerInnen finden – wobei letztere daraus nicht die Notwendigkeit deutschen Kolonialbesitzes ableiteten, sondern für ein reformiertes Mandatssystem plädierten.
Der mehrheitlich pragmatische Umgang der Kolonialbewegung mit dem Mandatssystem speiste sich aus der machtpolitischen Schwäche Deutschlands. Sie ließ sich auf Forderungen von Mandaten ein, jedoch sollten diese ihr eigentliches Interesse – den Rückerwerb der ehemaligen Kolonien – keinesfalls ersetzen. Keine/r der KolonialrevisionistInnen verpasste die Gelegenheit, die europäischen Kolonialmächte zu diskreditieren und Deutschland als »Beschützer der Kolonisierten« und »wahren Treuhänder« darzustellen. Nachdem der Völkerbundsbeitritt nicht die erhofften Mandate gebracht hatte, wandten sich Teile der kolonialrevisionistischen Bewegung der NSDAP zu. In der Debatte um das Mandatssystem forderten auch einige VertreterInnen der Friedensbewegung und der Gewerkschaften aus nationalem Interesse deutsche Kolonialmandate und vertraten entsprechend kolonialrevisionistische Positionen. Die gemäßigten, kulturmissionarisch argumentierenden KolonialkritikerInnen wiederum sahen in einem reformierten Mandatssystem den Garanten dafür, die kolonisierten Gesellschaften zum Aufbau demokratischer Prinzipien anzuleiten, und schlugen die Ausdehnung des Mandatssystems auf sämtliche Kolonialgebiete vor.
Primitiv, unverdorben, rein
Von dieser Position hoben sich die antikolonialen KolonialkritikerInnen deutlich ab, denn sie bewerteten auch das Mandatssystem als unterdrückerisches Gewaltverhältnis. Als Teil des Kolonialimperialismus verursachte es ihrer Ansicht nach einen Konkurrenzkampf zwischen den europäischen Staaten und bedeutete damit eine ständige Kriegsgefahr. Daher traten sie für ein bedingungsloses »Selbstbestimmungsrecht der Völker« ein, mit dem aber die weltweite Nutzbarmachung kolonialer Rohstoffe einhergehen sollte. Diese antikolonialen KolonialkritikerInnen vermochten es allerdings nicht, sich in ihren Argumentationen von kulturalistischen und paternalistischen Denkweisen zu befreien. Sie hatten keinen Blick für die Differenzen und Hierarchien innerhalb der kolonisierten Gesellschaften, sondern konstruierten die »Anderen« in einer romantisierenden Vorstellung als noch unverdorbene und reine primitive Kulturen und folglich als homogene Einheit. Durch diese Zuschreibungen, die in Abgrenzung zum als zivilisiert gesetzten eigenen Selbst stattfanden, ordneten auch die antikolonialen KolonialkritikerInnen die Kolonisierten den EuropäerInnen in einem hierarchischen Klassifizierungsschema unter, obwohl sie einen für alle Menschen geltenden Gleichheitsanspruch vertraten.
Hervorzuheben ist allerdings, dass bereits in der Weimarer Republik Personen wie Paul Oestreich vom BES kulturalistische und rassistische Unterscheidungsmerkmale, die einzig und allein zur Legitimation der Kolonisation gedient hätten, pointiert in Frage stellten.
Oestreich maßte sich nicht an, die Kolonisierten in paternalistischer Manier erziehen zu wollen. Auf dem antikolonialen Brüsseler Kongress traten die dort versammelten KolonialkritikerInnen für die Würde aller Menschen ein und konterkarierten die Vorstellung von der »westlichen Zivilisation«. Indem VertreterInnen aus den kolonisierten Gebieten für sich selbst sprachen, wurden sie zu AkteurInnen und verloren ihren Objektstatus. Mehrheitsfähig waren antikoloniale Positionen in der Weimarer Republik allerdings nicht.
Anmerkungen:
1 siehe: Der Kolonialdeutsche. 1926, Nr. 11 (1. Juli), S. 222f. Zurück
2 Das Mandatssystem funktionierte nach dem Prinzip der Treuhänderschaft, dem zufolge sowohl die Interessen der beherrschten Bevölkerung als auch die des Mandatars berücksichtigt werden sollten. Zurück
3 siehe Adolf Rüger: Der Kolonialrevisionismus der Weimarer Republik; in: Helmuth Stoecker (Hg.): Drang nach Afrika. Die koloniale Expansionspolitik und Herrschaft des deutschen Imperialismus in Afrika von den Anfängen bis zum Ende des zweiten Weltkrieges. Berlin 1977, S. 253f. Zurück
4 siehe Jan Esche: Koloniales Anspruchdenken in Deutschland im Ersten Weltkrieg, während der Versailler Friedensverhandlungen und in der Weimarer Republik (1914 bis 1933). Hamburg 1989, S. 100. Zurück
5 Neben unzähligen Zeitschriften wurden einige Standardwerke herausgegeben, wie z.B.: Heinrich Schnee (Hg.): Deutsches Koloniallexikon. Leipzig 1920, 3 Bände; Hans Zache (Hg.): Das deutsche Kolonialbuch. Leipzig 1926. Zurück
6 siehe Christian Rogowski: »Heraus mit unseren Kolonien!« Der Kolonialrevisionismus der Weimarer Republik und die »Hamburger Kolonialwoche« von 1926; in: Birthe Kundrus (Hg.): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus. Frankfurt, New York 2003, S. 247. Zurück
7 Dies verkündete DKG-Generalsekretär Duems auf der ordentlichen Mitgliederversammlung der Kolonialen Reichsarbeitsgemeinschaft am 22.6.1928 in Köln; zit. n. Rüger 1977, a.a.O., S. 268. Zurück
8 siehe dazu u.a. Alexander Honold, Oliver Simons (Hg): Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden. Tübingen, Basel 2002; Kundrus, 2003, a.a.O.; Alexander Honold, Klaus R. Scherpe (Hg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit. Stuttgart 2004. Zurück
9 siehe: Die Friedens-Warte. 27. Jg., 1927, Heft 2, S. 52. Zurück
10 siehe Heiko Möhle: Betreuung, Erfassung, Kontrolle. Afrikaner aus den deutschen Kolonien und die »Deutsche Gesellschaft für Eingeborenenkunde« in der Weimarer Republik; in: Marianne Bechhaus-Gerst, Reinhard Klein-Arendt (Hg.): Die (koloniale) Begegnung. AfrikanerInnen in Deutschland 1880-1945, Deutsche in Afrika 1880-1918. Frankfurt u.a. 2003, S. 234. Zurück
11 Die alliierten und assoziierten Mächte warfen Deutschland insbesondere die brutale bis vernichtende Behandlung der Kolonisierten sowie die Militarisierung der Kolonien vor. Dadurch hätte Deutschland sich als Kolonialmacht disqualifiziert und jegliche Kolonialansprüche verwirkt. Zurück
Susanne Heyn ist Historikerin und war von 2006-2008 wissenschaftliche Koordinatorin der "Interdisziplinären Arbeitsgruppe Frauen- und Geschlechterforschung" an der Universität Kassel. Zurzeit promoviert sie als Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung zum Thema "Jugend in der Weimarer Republik im Spannungsfeld von Kolonialrevisionismus und Kolonialkritik". [Die Autorizeile wurde aktualisiert Feb. 2009]
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siehe auch auf freiburg-postkolonial:
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