Heiko Wegmann: Herr Linne, um es auf eine Formel zu bringen: Wie ‚kolonial’ war der nationalsozialistische Staat? Wer waren – abgesehen von der alten Kolonialbewegung - die einflussreichsten Befürworter deutscher Kolonien in Afrika? Und wer waren die wichtigsten Gegner innerhalb des NS?
Karsten Linne: Betrachtet man die Vielzahl der in das koloniale Projekt involvierten Institutionen und Personen, kann man den Eindruck gewinnen, dass der NS-Staat sehr kolonial eingestellt war. Einflussreiche Befürworter dieses Gedankens fanden sich im Auswärtigen Amt, in der Kriegsmarine und nicht zuletzt in den Privatfirmen, in vorderster Front die Berliner und hanseatischen Schifffahrts- und Handelsgesellschaften, aber auch die Deutsche Bank. Die Phalanx derer, die zumindest von der künftigen Existenz eines deutschen Imperiums in Afrika ausgingen reichte viel weiter, teilweise bis in die Reihen der „Ostplaner“ hinein, wenn man nur an den Rassereferenten im Ostministerium, Erhard Wetzel, denkt. Er wollte bspw. die Deutschen aus Südbrasilien im Austausch für dorthin zu deportierende Polen „im afrikanischen Kolonialraum des Reiches“ ansiedeln. Klammert man Hitler aus, der eine ambivalente Haltung zu afrikanischen Kolonien einnahm und die Forderung nach ihnen eher als taktisches Mittel einsetzte, so war der wohl mächtigste dezidierte Gegner der einflussreiche Leiter der Parteikanzlei, Martin Bormann. Er hielt Kolonien in Afrika für gänzlich unnötig und behinderte die Kolonialbewegung wo er nur konnte.
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Die sich bis 1936 hinziehende Gleichschaltung der Kolonialbewegung wurde von dieser ja durchaus auch als Chance gesehen, damit das Kolonialthema im NS-Staat zu verankern. Wie nationalsozialistisch war also umgekehrt die Kolonialbewegung? Gab es Brüche auf dem Weg vom Kaiser zum Führer?
Die an sich eher bürgerlich-konservative Kolonialbewegung schaltete sich selbst gleich, entledigte sich ihrer jüdischen Mitglieder und passte sich dem nationalsozialistischen Gedankengut rasch und weitgehend vorbehaltlos an. Brüche gab es in dieser Hinsicht nur wenige, was in erster Linie daran liegt, dass es natürlich immer Berührungspunkte zwischen beiden Bewegungen gab: angefangen vom Kampf gegen „Versailles“ bis zum verbindenden Rassismus. Es gab nur wenige führende Mitglieder der Kolonialbewegung, die gegen den Nationalsozialismus opponierten – und dann eher aus allgemein politischen Gründen heraus, wie beispielsweise das Vorstandsmitglied der Deutschen Kolonialgesellschaft Konrad Adenauer.
Bild: Einladung zur Kolonialausstellung 1935 in Freiburg mit einem typischen Motiv der NS-Kolonialbewegung (Foto: H. W.)
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Ihr Buch ist entlang verschiedener Phasen strukturiert, die das Auf und Ab der kolonialen Bewegung und Planungen kennzeichneten. Was waren die markanten Wendepunkte?
Die Wendepunkte ergeben sich aus der politischen und militärischen Entwicklung. Sie sind schnell aufgezählt: Natürlich 1933 als Hoffnung auf neue außenpolitische Stärke, ab 1936/37 die Einbindung der kolonialen Projekte in die forcierte Kriegsvorbereitung, dann natürlich der Kriegsbeginn selbst, wichtiger aber noch der militärische Sieg über Frankreich im Juni 1940, der die Planungseuphorie immens befeuerte. Diese Hochphase der Kolonialplanungen lief bis Ende 1941, bis zur deutschen Niederlage vor Moskau, die ein rasches Kriegsende illusorisch erscheinen ließ. Im Jahr 1942 schwankte die Kolonialbewegung zwischen Hoffen und Bangen. Nach der alliierten Landung in Nordafrika im November 1942 und der folgenden deutschen Niederlage in Stalingrad sowie dem Rückzug aus dem Kaukasus schwanden die Hoffnungen auf afrikanische Kolonien zusehends – die Zeit der Abwicklung begann.
Zahllose Ämter, Parteistellen, Forscher und wirtschaftliche und politische Interessenvereinigungen, haben sich (auch) mit kolonialen Fragen befasst. Dabei gab es nicht nur ständig wechselnde Begehrlichkeiten, welche Länder man nun konkret haben wollte, sondern auch unterschiedliche Konzepte, was man dort für eine Herrschaft aufbauen wollte. Lässt sich angesichts dessen dennoch grob umschreiben, was der Kern der Planungen war?
Dazu nur die wichtigsten Stichpunkte, sonst müsste ich wirklich weiter ausholen: Es ging den meisten Kolonialplanern dabei um die ehemaligen deutschen Kolonien, mindestens ergänzt durch den rohstoffreichen Belgischen Kongo. Die Wirtschafts- und vor allem die Sozialpolitik bildeten m.E. den Kern der Planungen. Es sollte keine Massensiedlung von Deutschen geben, diese sollten nur die leitenden Funktionen übernehmen. Die eigentliche Arbeit hätten die Afrikaner zu tragen gehabt, deshalb die intensiven Überlegungen zur Arbeiterrekrutierung und zum Arbeitsmarkt insgesamt. Vor allem wollten die Planer die „Proletarisierung“ dieser afrikanischen Lohnarbeiter verhindern und appellierten darum an deren „Gemeinschaftssinn“. Die koloniale Wirtschaft sollte – stärker als in Deutschland selbst – staatlich gesteuert und reglementiert werden. Sie sollte in erster Linie die heimische Wirtschaft mit Rohstoffen und Lebensmitteln ergänzen, vor allem für eine Schließung der deutschen „Fettlücke“ durch pflanzliche Fette und Öle sorgen. Daneben ging es um Kautschuk, tropische Hölzer, Erze etc.
Bild: 1936 brachte der Cigaretten-Bilderdienst Dresden ein Sammelklebebildchen-Buch heraus, das den deutschen Kolonialismus massenwirksam verherrlichte und u.a. von dort zu beziehende Rohstoffe und Naturprodukte vorstellte (Scan: H.W.). Mehr
Welche Rolle spielten dabei die Arbeiterfrage und sozialpolitische Planungen? Hatte man eine Art Apartheidstaat im Sinn?
Zur entscheidenden Rolle der Arbeiterfrage – alle Planer gingen von einem eklatanten Arbeitermangel aus – und der Sozialpolitik allgemein, habe ich bereits etwas gesagt. Die Sozialpolitik stilisierten viele Planer geradezu zur „Grundlage der neuzeitlichen Überseekolonisation“. Natürlich hatte man bei der Gestaltung der Sozialverhältnisse eine „Apartheid auf deutsch“ im Sinn, das ergab sich schon aus der nationalsozialistischen „Rassenlehre“. In genau diese Richtung zielten die ausgefeilten Entwürfe kolonialer Gesetze, in erster Linie das rassistische „Kolonialblutschutzgesetz“. Es sollte den Geschlechtsverkehr zwischen Deutschen und Afrikanern verhindern, vor allem aber die „Rassenmischehen“. Einem Afrikaner, der Geschlechtsverkehr mit einer „weißen Frau“ hatte, drohte die Todesstrafe. Nur wenn „mildernde Umstände“ vorlagen, sollte auf Zuchthaus oder Gefängnis entschieden werden.
Zur Frage der NS-Kolonialplanungen gibt es zwar keine breite Forschung, aber doch bemerkenswerte ältere Publikationen, wie etwa von Kum'a Ndumbe III. „Was wollte Hitler in Afrika?“ (auf Deutsch 1993 erschienen) oder die sehr umfassende Studie von Hildebrand „Vom Reich zum Weltreich: Hitler, NSDAP und koloniale Frage 1919 – 1945“, die bereits 1969 erschienen ist. Im Klappentext Ihres Buches heißt es nun, Sie lieferten „erstmals einen Überblick über die weitreichenden Kolonialplanungen im Nationalsozialismus auf dem Stand neuester Forschungsergebnisse.“ Wie verorten Sie Ihr Buch gegenüber den älteren Arbeiten?
Es ist immer schwer selbst darüber zu urteilen. Die sehr verdienstvollen älteren Arbeiten setzten andere Schwerpunkte, z.B. auf die Person Hitlers oder auf den Repressionsapparat. Sie vernachlässigten die aus meiner Sicht zentralen sozial- und wirtschaftspolitischen Planungen – eine wichtige Institution wie das Arbeitswissenschaftliche Institut der Deutschen Arbeitsfront taucht bei ihnen gar nicht oder kaum auf. Genauso wenig wurde die prominente Rolle der Kolonialwissenschaften beachtet. Als Überblick, der die Vorgeschichte mit einbezieht und Planungen sowie konkrete Vorbereitungen integriert, ist der Versuch sicher neu. Hinzu kommt, dass ich zahlreiche Planungspapiere gefunden habe, die früher einfach nicht vorlagen. Und natürlich muss man berücksichtigen, dass sich die Forschungslage insgesamt gebessert hat: Arbeiten über Afrikaner in Deutschland – um nur ein Beispiel zu nennen –, gab es früher einfach nicht.
Zusammenhänge von Nationalsozialismus und Kolonialismus werden derzeitig vor allem im Kontext der Genozid-Frage debattiert. Dabei geht es insbesondere um Kontinuitäten und Diskontinuitäten, möglichen Analogien und Transfers zwischen dem Herero-Nama-Krieg 1904-1907 und dem Ostfeldzug oder sogar dem Holocaust (Mehr). Auf diese Fragen gehen Sie zwar in Ihrem Buch nicht ein, bringen aber ganz konkrete Beispiele, wie sich etwa Kolonialfirmen im Osten hinter der militärischen Front engagiert haben. Könnten Sie ein Beispiel bringen? Und wie relevant waren solche Engagements?
Es sieht auf den ersten Blick etwas obskur aus, wenn zum Beispiel die Deutsche Togo-Gesellschaft im ukrainischen Shitomir auftaucht. Aber für die Afrika-Firmen war der „Osteinsatz“ der letzte Rettungsanker, da sie mit Kriegsbeginn ihr eigentliches Betätigungsfeld verloren hatten. Und für die deutsche Besatzungspolitik im Osten – in erster Linie in Polen – waren die Firmen, die den überwiegenden Teil der Kreisgroßhändler im Generalgouvernement stellten, aufgrund ihrer „kolonialen Erfahrungen“ unverzichtbar. Der letzte Punkt ist durchaus nicht ironisch gemeint, sondern war ein wichtiger Faktor in der Debatte um den Einsatz der Firmen. Auch in deren internen Berichten wurde immer wieder betont, dass die „primitiven Verhältnisse“ durchaus ähnlich mit denen in Afrika seien.
Jenseits der speziellen Genozid-Debatte werden die nationalsozialistischen Kolonialplanungen für Afrika von NS-Historikern meistens nicht einmal erwähnt. Angesichts des realen Vernichtungsfeldzugs in Osteuropa scheint ihnen die Frage eines gar nicht errichteten afrikanischen Kolonialreichs nicht bedeutsam zu sein. Sehen Sie andere Gründe dahinter? Und plädieren Sie für eine Neubewertung des NS-Kolonialismus?
Neben Auschwitz, neben dem Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht im Osten verblasst alles andere naturgemäß. Trotzdem finde ich den Hinweis auf die Kolonialplanungen für Afrika sehr wichtig – nicht im Sinne einer möglichen „Alternative“ zur genozidalen Ostpolitik, sondern als Fortsetzung einer in Deutschland lange bestehenden und verfolgten Expansionsrichtung, nämlich der nach Süden. Diese interessierte Historiker lange Zeit gar nicht, später nur bezogen auf die reale Kolonialpolitik. Der „Kolonialismus ohne Kolonien“, der „Phantasieraum Afrika“, fanden erst in letzter Zeit stärkere Beachtung. Insofern ist „Neubewertung“ sicher zu hoch gegriffen; aber ich plädiere dafür, die Kolonialplanungen trotz ihres offenkundigen Scheiterns als Kontinuität der Denktradition eines Teils der deutschen Eliten ernst zu nehmen.
Karsten Linne: Deutschland jenseits des Äquators? NS-Kolonialplanungen für Afrika, Chr. Links Verlag, Berlin 2008, 216 Seiten, Preis: 24,90 €, ISBN: 978-3-86153-500-3.
Vom selben Autor: "Weiße Arbeiterführer" im "Kolonialen Ergänzungsraum". Afrika als Ziel sozial- und wirtschaftspolitischer Planungen in der NS-Zeit, Münster: Monsenstein & Vannerdat, 2002, 490 S., EUR 22,80
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siehe auch auf freiburg-postkolonial:
Rheinisches JournalistInnenbüro: Kolonialpläne der Nazis: »Auch hier liegt deutsches Land!« - Ein deutsches Reich in Afrika (2005) Zum Text
Dokumentation einer Debatte (2008) um (Dis-)Kontinuitäten von Kolonialismus und Nationalsozialismus. Mit Hauptbeiträgen von Jürgen Zimmerer und Birthe Kundrus, sowie ergänzenden Beiträgen von Philip Geck, Anton Rühling, Jörg Später und Heiko Wegmann Mehr
Kundrus, Birthe: Grenzen der Gleichsetzung - Kolonialverbrechen und Vernichtungspolitik Zum Text
Rezensionen:
Dreesbach, Anne: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung "exotischer" Menschen in Deutschland 1870-1940 (2005) Zur Rezension
Bechhaus-Gerst, Marianne: Treu bis in den Tod. Von Deutsch-Ostafrika nach Sachsenhausen. Eine Lebensgeschichte (2007) Zur Rezension
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